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Gesundheit: Ein Fluss im Urstromtal

Die Elbe hat sich die grünen Wiesen zurückgeholt, wo Arbeitsplätze entstehen sollten

Von Thomas de Padova

„Die Elbe fließt bei dieser Wassermenge wieder so, wie sie schon vor Jahrtausenden geflossen ist. Sie hat sich ihr Ursprungstal zurückgenommen.“

Michael Kinze, Präsident des Sächsischen Landesamtes für Umwelt und Ökologie in Dresden, schaut fassungslos auf die Fluten. Das Wasser ist sein Element, seit 30 Jahren. Der habilitierte Bauingenieur hat Talsperren und Deichanlagen studiert. Doch diesmal ist alles anders, jetzt, da sich der Fluss sein Bett wieder selbst sucht.

Kinze hätte es nie für möglich gehalten, dass die Elbe auf eine solche Höhe anschwillen könnte. Und plötzlich fließt sie viel langsamer, als alle erwartet haben.

„Flüsse sind besonders ein Symbol für die Zeit, in der sich die Masse bildet, die Zeit, in der sie noch nicht erreicht hat, was sie erreichen wird“, schrieb Elias Canetti. Die Elbe hat sich viel Zeit gelassen, die anderen Zuflüsse in sich aufzunehmen. Beharrlich strömt sie nun weiter in Richtung Meer.

Auch vor Dresden verweilen die Wassermassen ungewöhnlich lang. „Jedes Haus ist ein kleines Wehr“, sagt Kinze. Das Wasser staut sich vor unzähligen Hindernissen. Deshalb sinkt der Wasserpegel nur gemächlich Millimeter für Millimeter. „Solche Erfahrungen haben wir hier bisher noch nicht gemacht.“

Trügerische Sicherheit

Niemand weiß im Vorhinein, was passiert, wenn ein Deich einmal keinen Schutz mehr bietet, wenn er überspült wird, wenn ihn das Wasser nach und nach durchweicht oder sich einen Weg unter ihm hindurch gräbt. Die meisten Einwohner einer Stadt wie Dresden haben sich auch nie Gedanken darüber gemacht, dass es einmal dazu kommen könnte. Das letzte bedrohliche Hochwasser liegt lange zurück. Und so hoch wie jetzt war es noch nie seit Aufzeichnung der Wasserpegel, auch nicht an jenem 16. August im Jahre 1501, als schon einmal, mitten im Sommer, 5000 Kubikmeter Wasser pro Sekunde durch Dresden strömten.

Jeder eingedeichte Fluss vermittelt ein Gefühl der Sicherheit. Es ist ein trügerisches Gefühl. Man sieht den Fluss nicht steigen, die Gefahr nicht näher kommen. Hinterm Deich ist’s immer gleich. Felder können bestellt, Häuser und Straßen gebaut werden. Aber die Sicherheit währt nur bis zu dem Punkt, an dem das Wasser die Krone erreicht.

Mit einem Male platzt der zuvor eingeengte Fluss aus seinem zu schmalen Korsett und erobert sich seine Überschwemmungsflächen zurück. Oft sind es einstige Auen: Passau ist eine solche Au, die in diesen Tagen den Fluten anheim fiel. An der Elbe sind es Orte wie Dessau, Torgau oder Döbrichau.

Flüsse seien wie Kindermünder, erklärte einst der Ingenieur Chia Jang. Wenn man sie zu stopfen versucht, schreien sie nur umso lauter, oder sie ersticken.

Chia Jang lebte in China, das seit jeher mit Überschwemmungen des Jangtsekiang und des Hoangho zu kämpfen hat, den schlimmsten, die wir auf Erden kennen. Infolge der Schlammfluten des Jangtsekiang starben 1931 anderhalb Millionen Menschen, sieben Jahre später kamen am Hoangho 500 000 Menschen ums Leben.

China ist der Philosophie, dem Wasser Wege zu öffnen, ebenso wenig gefolgt wie andere Länder. Das prominenteste Beispiel für einen europäischen Fluss, der in der Vergangenheit als Wasserstraße regelrecht eingeschnürt wurde, ist der Rhein.

Aus einstigen Auen am Oberrhein wurden während der Rheinausbauten in den 50er, 60er und 70er Jahren landwirtschaftliche Nutzflächen, Industriegebiete und Siedlungen. Hatten Überschwemmungsflächen das Hochwasser zuvor abgefedert, schrumpften diese Gebiete nun um mehr als die Hälfte.

Nachdem 1977 die letzte Staustufe bei Iffezheim fertig gestellt worden war, die dem Fluss noch einmal 30 Quadratkilometer Rückhaltefläche entzog, setzte eine nie dagewesene Serie extremer Hochwasser ein. Die flussabwärts gelegenen Gebiete haben seither darunter zu leiden. Die schnelle Hochwasserwelle des begradigten Rheins fällt zeitlich oft mit der seiner Nebenflüsse zusammen. Anfang Februar 1995 stieg der Wasserpegel im niederländischen Grenzgebiet auf fast 17 Meter. 200 000 Menschen und Millionen Tiere mussten evakuiert werden.

Die Elbe ist nicht in ein derart enges Korsett gezwungen worden. Anfang des 19. Jahrhunderts wollte man den Fluss zwar noch für große Binnenschiffe befahrbar machen. Doch der Krieg setzte dem Elbausbau einstweilen ein Ende. Und da in der DDR der Wunsch nach einer Schifffahrtsstraße nicht sonderlich groß war, wurzeln noch immer die größten Auenwälder Mitteleuropas an den Ufern der Elbe. Sie sind Rast- und Durchzugsgebiet vieler Vogelarten, hier leben Störche, Biber und Lachse.

Die Elbe ist ein in vieler Hinsicht idyllischer und naturnaher Fluss geblieben. „Aber dass wir jetzt solche gewaltigen Zuflüsse haben, liegt nicht allein an der extremen Wetterlage“, sagt Michael Kinze. „Auch wir haben viele Täler zugebaut und sind vor allem nach der Wende mit immer neuen Siedlungsflächen an den Fluss herangegangen. In Sachsen wird Tag für Tag eine Fläche so groß wie 15 Fußballfelder verbaut. Die Bürgermeister der Städte und Gemeinden haben uns immer wieder gesagt, wir müssten Arbeitsplätze schaffen – und zwar auf der grünen Wiese. Das war zu einseitig gedacht.“

Folgen des Aufbaus Ost

Denn anders als eine Wiese kann der versiegelte Boden kein Wasser aufnehmen. Es fließt direkt in den Fluss. Und auch die landwirtschaftlich genutzten Flächen, die oft an Hängen liegen, nähmen kaum Wasser auf, „weil Zuckerrüben- und Maisfelder den Regen nicht so zu halten vermögen wie Weizenfelder oder Wiesen“, sagt Kinze. Jeder kleine Halm hält Tropfen zurück, jedes Blatt eines Baums - ein ausgeräumter Acker nicht.

Es gebe häufig nicht einmal mehr Feldwege, die anderswo wie kleine Staudämme wirkten und das Wasser versickern ließen, sagt Kinze. „Wenn es auf die landwirtschaftlichen Hangflächen regnet, läuft das Wasser nur so runter. Und dabei transportiert es auch noch die wertvolle Bodenkrume ab.“

Kinze plädiert angesichts des schrecklichen Hochwassers dafür, die ländliche Ordnung wieder neu zu regeln. „Wir müssen, wieder mehr Retentionsflächen schaffen.“

„Flüsse und Bäche müssen in unbewohnten Gebieten endlich den notwendigen Überflutungsraum erhalten, damit Flussanrainer von weiteren Katastrophen verschont werden“, sagt auch Gerd Billen, Bundesgeschäftsführer des Naturschutzbundes Deutschland. Die Planungen zum weiteren Elbausbau für die Binnenschiffahrt weisen seit der Wende eher in die entgegengesetzte Richtung. Aus den Erfahrungen im Rheinland haben die Wasserbauer in Deutschland bislang leider sehr wenig gelernt.

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