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Gesundheit: Ein Leben in Dunkelheit und Stille

Bis zu 6000 Menschen in Deutschland sind taubblind und extrem auf Hilfe angewiesen. Doch die ist schwer zu bekommen. Denn das Leiden ist bisher nicht als eigene Form von Schwerbehinderung anerkannt. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

Wenn Heike Schroer einen Kuchen backt, sind Form und Geschmack Glückssache. Sie kann weder die Waage ohne Lupe ablesen noch die Teigform vollständig erkennen. Beim Kochen verlässt sie sich auf ihre Nase. Dass das Teewasser fertig ist, spürt sie nur am Dampf. Zum Einkaufen schreibt sie Zettel für die Verkäufer. Autos hört sie ebenso wenig wie die Türklingel. Was für viele Menschen ein Albtraum wäre, ist für die Berlinerin Alltag. Die 52-Jährige lebt in einer Welt der Stille und fast völligen Dunkelheit: Sie ist taubblind. Heike Schroer wurde gehörlos geboren und erblindete durch eine Veränderung der Netzhaut langsam. „Mit 17 hat sich mein Blickfeld stark verkleinert“, übersetzt eine Gebärdensprachdolmetscherin. Die Diagnose „Usher-Syndrom“ sei ein großer Schock gewesen.

Die Krankheit gilt als häufigste Ursache für erblich bedingte Taubblindheit. „Es ist, als ob man durch eine Röhre schaut. Einen Ausschnitt sieht man scharf, der Rest ist dunkel. Nach und nach wird das Gesichtsfeld immer kleiner“, beschreibt Manfred Gross, Direktor der Klinik für Audiologie und Phoniatrie der Charité, ein Symptom der unheilbaren Krankheit. Typisch seien auch Nachtblindheit und eine hohe Sonnenlichtempfindlichkeit. 2008 hat er eine Sprechstunde für Usher-Patienten ins Leben gerufen, bei der acht Experten jährlich rund 20 Patienten und deren Angehörige aus ganz Deutschland beraten.

Heike Schroer sieht nur noch einzelne Flecken. Verständigen kann sie sich mit Gebärden. Die Gesten anderer sieht sie schlecht und versteht sie daher manchmal falsch. Dann muss sie taktil gebärden und ertastet die Handbewegungen. „Zu so viel Nähe ist nicht jeder bereit“, bedauert sie. Andere ziehen das Lormen-Alphabet vor, eine Art Handalphabet für Taubblinde. „Ich würde gern neue Menschen kennenlernen, oder spontan verreisen, doch das ist kaum möglich“, sagt sie. Bei einem Mobilitätstraining hat sie immerhin gelernt, sich ohne Angst auf die Straße zu wagen. Sie besucht eine Selbsthilfegruppe, die sich monatlich in den Räumen des Gehörlosenverbandes in der Friedrichstraße trifft – zum Informationsaustausch oder auch Basteln. Wenn man weder fernsehen, Radio hören, Bücher lesen noch unbeschwert spazieren kann, rücken die Hände in den Mittelpunkt. Auch Museumsbesuche und Ausflüge gibt es, doch die sind aufwendig zu organisieren und nur mit Helfern möglich.

Schätzungen zufolge leben bundesweit zwischen 2500 bis 6000 Taubblinde, darunter 3200 Usher-Patienten. In Berlin gibt es laut Gross etwa 160 Usher-Patienten. Die genau Zahl der Taubblinden würde nicht amtlich erfasst, weil sie nicht als schwerbehindert anerkannt sind, kritisiert Irmgard Reichstein von der Stiftung „Taubblind leben“. Für den Schwerbehindertenausweis gebe es zwar die Zeichen „Bl“ (blind) und „Gl“ (gehörlos). Doch die gleichzeitige Schädigung beider Fernsinne führe zu einem besonderen Bedarf. Der werde oft nicht erkannt: „Die Sachbearbeiter in den Kassen sind nicht vorbereitet. Da werden schon mal Licht- statt Vibrationsklingel oder Vorlesegeräte statt Braillezeilen genehmigt.“

Arzt- oder Behördenbesuche und Handwerkertermine seien ohne Hilfe schwer möglich. „Für ein selbstbestimmtes Leben brauchen taubblinde Menschen Assistenten“, so Reichstein. Doch ein Anspruch darauf sei schwer durchzusetzen und Assistenten rar. Auf der bundesweiten Liste des Taubblinden-Assistentenverbandes stehen 34 Adressen. Ausbildungen finden vor allem auf Projektebene statt. Das Berufsbild ist nicht anerkannt, die Bezahlung nicht geregelt. Aus Reichsteins Sicht könnte die Anerkennung von Taubblindheit als Behinderung unter dem Merkzeichen „TBL“ Probleme lösen. Doch in Deutschland sei das bislang nicht geschehen. Die Stiftung „Taubblind leben“ und zwei Betroffenenverbände haben dem Bundessozialministerium deshalb im Frühjahr 14 000 Unterschriften überreicht. Dort gab es auch ein Expertengespräch.

Bereits 2007 haben verschiedene Organisationen und Verbände, vereint in einem Fachausschuss, eine Resolution für ein eigenes Merkzeichen verabschiedet. 2010 legte dieser Ausschuss auch ein Gutachten zu den Bedürfnissen Taubblinder vor. Doch getan hat sich seitdem nicht viel. Ein Ministeriumssprecher kündigte an, bei den Behörden „für mehr Sensibilität im Umgang mit Taubblinden zu werben“. Ein weiteres Gespräch über mögliche Hilfsmittel sei geplant. Zudem solle eine Studie Aufschluss über den Bedarf von Assistenten und eines Merkzeichens geben. Die Ergebnisse werden Mitte 2013 erwartet. Ein neues Merkzeichen berge aber auch die Gefahr einer Stigmatisierung, so der Sprecher. Das sei nicht im Sinne einer inklusiven Politik.

Heike Schroer hat noch nie einen Assistenten in Anspruch genommen, weil die Kosten nicht geklärt sind. „In Berlin gibt es nur drei ausgebildete Kräfte. Zwei lassen sich gerade ausbilden“, erklärt Gudrun Marklowski-Sieke beim Treffen der Selbsthilfegruppe in der Friedrichstraße. Die Sozialpädagogin berät hauptamtlich im Potsdamer Oberlinhaus Taubblinde, hilft bei der Dolmetschersuche, bei Behördengängen, Anträgen und Widersprüchen. „Die meisten Anträge werden erst mal abgelehnt“, erzählt sie. Viele Hilfsmittel seien teuer, die Zuzahlungen hoch. Trotz Pflege- und Blindengeldes lebten viele Betroffene am Existenzminimum.

Heike Schroer träumt davon, wieder sehen zu können. „Besonders traurig macht mich, dass ich Farben nicht erkennen kann“, sagt sie. Manfred Gross schätzt, dass es in etwa zehn Jahren eine Gentherapie gibt. Nützen könnte sie Menschen, die noch nicht erblindet sind: „Selbst wenn bei diesen Patienten die Sehstörung zum Stillstand kommt, hätte man einen riesigen Erfolg erreicht.“

Webseite des Gehörlosenverbandes: www.deafberlin.de. Die nächste Usher-Sprechstunde findet am 13.12. statt. Telefon: 824 64 99 und 01805/83 77 00

Anja Sokolow

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