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Gesundheit: Ein letzter Dienst

Wenn Patienten sterben, sollten sich Ärzte auch um die Angehörigen kümmern

Oft ist es genau diese Vorstellung, die Menschen veranlasst, eine Patientenverfügung zu verfassen: im „künstlichen Koma“ auf einer Intensivstation zu liegen, beatmet, an Geräte angeschlossen, die wichtige Lebensfunktionen erhalten. Nicht sprechen und deshalb auch keine Wünsche äußern zu können.

Wirklichkeit wird das alles vor allem für die Angehörigen, die diese Situation bewusst miterleben. Kann der ihnen nahe stehende Mensch nach einiger Zeit gesund oder zumindest weitgehend wiederhergestellt die Intensivstation verlassen, dann überwiegt bald das Gefühl der Dankbarkeit. Stirbt er aber dort, so zeigt die Hälfte aller nahen Angehörigen auch drei Monate später deutliche Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung, wie vor einigen Jahren die französische Studiengruppe Famirea ermittelte.

Jetzt haben die Intensivmediziner um Alexandre Lautrette vom Pariser Hôpital Saint-Louis im „New England Journal of Medicine“ (Band 356, Seite 469) die Ergebnisse einer weiteren Studie vorgelegt. Sie liefern deutliche Hinweise dafür, was Angehörigen helfen könnte, wenn für den Patienten keine Aussicht mehr auf Heilung besteht. Wenn also die Weichen auf Linderung und sanfte Begleitung beim Sterben gestellt werden sollten – und wo immer möglich auch auf eine Verlegung auf eine Palliativstation.

Auf 22 Intensivstationen aus ganz Frankreich wurden für die Studie die engsten Angehörigen von insgesamt 126 solcher Patienten nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen aufgeteilt: Die einen wurden in Gesprächen so betreut, wie es im jeweiligen Krankenhaus üblich war. Bei den anderen wurden die Gespräche nach den Prinzipien des Programms VALUE geführt: sie dauern mindestens eine halbe Stunde, die Angehörigen kommen ausführlich zu Wort und werden ermutigt, über ihre Emotionen, aber auch über den mutmaßlichen Willen des Erkrankten zu sprechen.

Die Ärzte lernen dafür spezielle Fragetechniken. „Eine Schlüsselfertigkeit liegt darin, besser zuzuhören und weniger zu reden“, heißt es dazu im Editorial der Zeitschrift. Die Angehörigen bekommen am Ende des Gesprächs eine Broschüre mit den wichtigsten Informationen ausgehändigt, um zu Hause alles in Ruhe nachlesen zu können. Denn wer unter Schock steht, kann Informationen nicht gleich verdauen.

In Telefoninterviews, die einer der Ärzte 90 Tage nach dem Tod des Intensivpatienten mit jeweils einem nahen Angehörigen führte, zeigte sich der Erfolg des Programms. Diejenigen, mit denen die Gespräche zuvor nach dem neuen Programm geführt worden waren, berichteten über deutlich weniger Symptome, wie sie für eine posttraumatische Belastungsstörung typisch sind. Sie äußerten sich auch selbst zufriedener über Art und Umfang der Gespräche. „An dieser Studie ist interessant, dass eine an sich selbstverständliche Maßnahme solche Langzeitfolgen hat – und dass diese Effekte hier erstmals auch quantifiziert wurden“, sagt Charité-Intensivmediziner Christoph Stein.

Bei der Auswertung zeigte sich auch, dass die Gesprächsmethode schon auf die Therapie des Patienten in seinen letzten Lebenstagen Einfluss genommen hatte: Bei Patienten aus Familien, in denen die Gespräche nach den VALUE-Regeln abgelaufen waren und entsprechend länger gedauert hatten, wurden seltener Maßnahmen durchgeführt, die aus medizinischer Sicht nichts mehr nützen konnten. Zudem war die Wahrscheinlichkeit größer, dass anfangs skeptische Angehörige einem derartigen Behandlungsverzicht ohne Schuldgefühle zustimmen konnten.

Adelheid Müller-Lissner

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