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Gesundheit: Ein Wunder oder ein Kind der Evolution?

Ausnahmen bestätigen die Regel: Ausgerechnet Deutschlands Dichtergenie Johann Wolfgang Goethe räumte einst ein, sich nie mit dem Ursprung der Sprache beschäftigt zu haben. Doch gerade in seiner Zeit, dem 18.

Ausnahmen bestätigen die Regel: Ausgerechnet Deutschlands Dichtergenie Johann Wolfgang Goethe räumte einst ein, sich nie mit dem Ursprung der Sprache beschäftigt zu haben. Doch gerade in seiner Zeit, dem 18. und 19. Jahrhundert, waren die Denker besessen von dieser Frage. Kein Filosof von Rang ließ sich es sich damals nehmen, mit eigenen Überlegungen zu diesem Problem aufzutreten. Neben fundierten Abhandlungen wurden aber auch wilde Spekulationen in die Welt gesetzt. Das führte 1866 dazu, dass die Pariser "Société de linguistique" weitere Beiträge zu dem Thema kurzerhand verbot. Während des 20. Jahrhunderts war das Nachsinnen über die Entstehung der Sprache deshalb weitgehend tabu. Es galt als die Spielwiese von Fantasten. Doch in den vergangenen 15 Jahren hat sich der Wind wieder gedreht: Die Frage nach dem Ursprung der menschlichen Sprache ist auf die Tagesordnung der akademischen Debatten zurückgekehrt.

Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften versammelte rund 20 Linguisten, Evolutionsbiologen, Hirnforscher und Historiker aus sechs Nationen, um Licht in die Anfänge und die Entwicklung der Sprache zu bringen. Einleitend behauptete der Berliner Linguist Manfred Bierwisch: "Eigentlich dürfte es die Sprache gar nicht geben." Der Hintergrund ist folgender: In den 60er Jahren wurde entdeckt, dass Menschen die Sprache nicht auf die gleiche Weise lernen wie andere Verhaltensweisen. Kinder eignen sich die grammatischen Regeln ihrer Muttersprache viel schneller an, als man es angesichts deren Kompliziertheit erwarten sollte. Eltern können sich ausmalen, was für eine Plackerei es wäre, wenn sie ihrem Sprössling Deutsch mit der gleichen Mühe beibringen müssten wie Tischmanieren oder die Regeln des Straßenverkehrs.

Daraus folgerten die Linguisten: Wir werden mit einem "Grammatikorgan" in unserem Kopf geboren, dessen Bauplan in den Genen niedergelegt ist. Doch genau hier liegt das Problem: Vorausgesetzt, es gibt ein solches mentales Organ, wie könnte Mutter Natur es dann geschaffen haben? Die Entwicklung des Lebens schreitet dadurch voran, dass sich eine nützliche genetische Neuerung von einem Einzelnen ausgehend über die ganze Art verbreitet. Charles Darwin nannte das "Evolution durch natürliche Auslese". Diese Form der evolutionären Innovation funktioniert jedoch nur, wenn die Neuerung dem Individuum beim Überleben hilft. Ohne erkennbaren Nutzen wird sie nicht dauerhaft in den gentischen Code übernommen, indem sie sich durch die ganze Art ausbreitet.

Sprache oder Gesten als Vorläufer von Sprache bringen nur dann einen Vorteil, wenn man sie von Anfang an mit anderen gemeinsam hat. Dass sich die erforderliche Mutation aber bei allen Urmenschen zugleich vollzogen haben könnte, ist mehr als unwahrscheinlich. Aus diesem Grund ist die Entstehung der Sprache für Bierwisch mit der Evolutionstheorie nicht zu erklären. Zwar fiel das Wort nicht, aber es war klar, was er meinte: Sprache ist ein Wunder.

Gegen diese Sichtweise wandte sich die Biologin Eva Jablonka von der Universität Tel-Aviv. Ihrer Meinung nach muss man sich die Geschichte anders herum vorstellen: Nicht das "Grammatikorgan" war zuerst da, sondern die Grammatik. Die Sprache sei eine Erfindung früherer menschlicher Gesellschaften. War sie als kulturelle Tradition erst einmal etabliert, habe sie eine neue "ökologische Nische" gebildet, an die sich das menschliche Gehirn über die Jahrtausende anpasste. Denn wer sich als befähigter erwies, die schwierige Kulturtechnik des Sprechens zu erlernen, war erfolgreicher bei der Jagd, da er sich mit Artgenossen besser abstimmen konnte. Dieser Erfolg machte ihn sexuell attraktiver. Er hatte also größere Chancen, seine Erbanlagen an die nächste Generation weiterzugeben. "Daher kann man sagen: die Sprache hat die Gene verändert", sagt Eva Jablonka.

In eine ganz andere Richtung wies der Vortrag von Mike Beaken von der Universität Liverpool. Der britische Linguist erforscht, über welche grammatischen Mittel wie Pronomen oder Verben die Sprachen verfügen, um Besitzverhältnisse auszudrücken. Im Ur-Indogermanischen, von dem fast alle modernen Sprachen Europas abstammen, finde sich kein Wort "haben" mit der Bedeutung "besitzen", erklärte Beaken. Ein solches Verb sei erst im Altgriechischen und im Lateinischen aufgetaucht. Die heutigen europäischen Sprachen hätten "haben" dann von ihren antiken Vorfahren übernommen, beispielsweise "to have" im englischen oder "avoir" im Wortschatz der Franzosen. Daher kann man in fast allen diesen Sprachen sagen "Ich habe ein Buch" im Sinne von "Mir gehört ein Buch." Welche sozialen Bedingungen, so wollte Beaken wissen, können aber dafür verantwortlich sein, dass "haben" ausgerechnet zu jener Zeit Eingang in den Wortschatz fand? Beakon schlug folgende Lösung vor: Erst durch die Verbreitung des Privateigentums im alten Griechenland und im Römischen Reich war es notwendig geworden, Besitz durch ein einfaches Verb zu kennzeichnen. Mit dem Aufstieg des Kapitalismus hätte sich dieser Zustand dann zementiert.

Für seine Thesen musste der Liverpooler Linguist Kritik einstecken. Die meisten anderen Wissenschaftler lehnten es ab, einen so engen Zusammenhang zwischen Sprache und Gesellschaftsordnung herzustellen. Die Diskussion hierüber zeigte, dass die Frage nach dem Ursprung der Sprache neben wissenschaftlicher Neugier immer auch weltanschauliche Grundannahmen widerspiegelt. In wie starkem Maße die früheren Debatten über die Entstehung der Sprache vom Zeitgeist abhängig waren, das zeichnete der Wissenschaftshistoriker Wolfert von Rahden nach. Anders als etwa in Frankreich erlebte die Frage nach dem Ursprung im Deutschland der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eine neue Blüte. Warum? Da sich die Deutschen als "verspätete Nation" ihrer Identität unsicher waren, stand hinter dem Interesse an der Herkunft der Sprache in Wahrheit die Suche nach dem Ursprung der eigenen Kultur, befand von Rahden.

Bei der Vielfalt der Beiträge war es am Ende schwierig, eine einzelne Erkenntnis mit nach Hause zu nehmen. Vielleicht diese: Will man die Sprache und ihre Geschichte verstehen, müssen die verschiedensten Disziplinen zusammenwirken. Eine Teilnehmerin brachte es auf den Punkt: "Die Sprache ist viel zu komplex, um sie den Linguisten allein zu überlassen."

Daniel Eckert

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