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Gesundheit: Entscheidend ist der Lebensmut

Viele Operationen sind keine Altersfrage mehr

Wenn ein Mann heute seinen 85. Geburtstag feiern kann, hat er noch eine statistische Lebenserwartung von 5,2 Jahren. Bei einer gleichaltrigen Frau sind es sogar sechs Jahre. Mehr als 6000 Hundertjährige leben derzeit in Deutschland. Immer mehr Menschen erreichen in den Industrienationen ein Alter, das man einst „gesegnet“ nannte. Es ist aber zugleich ein Lebensabschnitt, in dem sich Verschleißerscheinungen und Krankheiten ganz massiv melden.

Zum Beispiel eine Verengung der Herzklappe, die für Öffnung und Verschluss zwischen Herzkammer und Hauptschlagader sorgt. „Die Aortenklappenstenose ist eine klassische Erkrankung des hohen Alters“, sagt der Kardiologe Manfred Hummel, Ärztlicher Direktor des Paulinenkrankenhauses, das eng mit dem Deutschen Herzzentrum kooperiert.

Dort werden jährlich annähernd 500 neue Herzklappen eingesetzt. Früher beschränkten sich die Operationen auf jüngere Patienten, etwa mit angeborenen Herzfehlern. Die langwierige Operation samt Narkose und Herz-Lungen-Maschine galt als zu riskant für alte Menschen. „Inzwischen sind die Operationsverfahren so gut geworden, dass man ohne Probleme auch 80-Jährigen eine neue Klappe einsetzen kann.“

Die Entscheidung wird dadurch erleichtert, dass die Symptome der Patienten quälend sind: Sie leiden unter dauerndem Druck auf der Brust, haben Schwindelgefühle und bekommen oft schon bei geringer Belastung keine Luft mehr.

Die Lebenserwartung von Herzpatienten, die mit solchen schweren Symptomen zum Arzt kommen, liegt ohne neue Klappe unter einem Jahr. Nach der – schon wegen der High-Tech-Klappen nicht gerade billigen – Operation erleben die meisten von ihnen heutzutage etliche Jahre ohne Beschwerden. Eine Lebenszeit, die noch vor wenigen Jahren gar nicht zur Debatte stand.

Beispiel Herzschrittmacher

Bei Herzrhythmusstörungen, die ebenfalls im höheren Alter häufiger sind, spielen implantierte Herzschrittmacher schon etwas länger diese Rolle. Inzwischen leben zahlreiche Patienten schon seit Jahrzehnten mit dem künstlichen Impulsgeber. Prominentes Beispiel: Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt. Bypass-Operationen, mit denen das Blut aus arteriosklerotisch verengten Gefäßen umgeleitet wird, sind ebenfalls schon längst Routine.

Auf die Frage nach Altersbegrenzungen bei all diesen Eingriffen an Herz und Gefäßen fragt der Kardiologe Hummel zurück: „Wie viel Leiden will die Gesellschaft alten Menschen im Wissen um Erfolg versprechende Alternativen zumuten?“

In Zukunft werden wahrscheinlich auch häufiger Kunstherzsysteme für ältere Patienten mit Herzinsuffizienz zum Einsatz kommen, meint Barbara Nickolaus, Sprecherin des Deutschen Herzzentrums. Auch für Transplantationen gibt es keine kategorische Altersbeschränkung.

Kaum Studien bei Patienten über 75

Spartenübergreifend sind sich Mediziner inzwischen einig, dass für Therapieentscheidungen nicht der Jahrgang eines Menschen, sondern allein sein individueller Zustand, sein Lebensmut und seine „Fitness“ zählen. Maßstab ist das biologische, nicht das kalendarische Alter.

Und dieser Maßstab gilt auch bei der Behandlung von Tumorleiden: „Alter selbst ist kein Grund für oder gegen eine bestimmte Behandlung“, sagt der Krebsspezialist Ulrich Wedding, Koordinator der Forschungsgruppe „Geriatrische Onkologie“ an der Universität in Jena.

Auch Krebs ist eine altersbetonte Krankheit: 70 Prozent aller Krebserkrankungen werden bei über 60-Jährigen diagnostiziert. Allein in den Jahren zwischen 1994 und 1999 ist die Anzahl der Krankenhausbehandlungen wegen Krebsleiden von über 75-Jährigen um ein Drittel gestiegen.

Doch die Onkologen wissen zu wenig über Krebs im hohen Alter. Denn wissenschaftliche Studien beschäftigen sich meist nur mit Patienten unter 75. „Das Problem älterer Patienten sind die Zweiterkrankungen“, sagt Klaus-Peter Hellriegel vom Vivantes-Klinikum im Friedrichshain, Vorsitzender der Berliner Krebsgesellschaft.

Viele Ältere, bei denen ein Krebsleiden diagnostiziert wird, leiden seit Jahren unter Arteriosklerose, Diabetes, hohem Blutdruck, eingeschränkter Nierenfunktion oder Erkrankungen der Leber. Eine aggressive Therapie ist dann nicht wegen ihres Alters, sondern wegen dieser Einschränkungen gefährlich für sie.

„Als ich mit meiner Karriere begonnen habe, galt Alter als Ausschlusskriterium für Chemotherapien“, sagt Hellriegel. Jetzt fordern die Krebsmediziner statt dessen ein „Assessment“ ein. Eine umsichtige Gesamteinschätzung der Situation soll der Entscheidung über die Therapie vorausgehen. Dazu gehört auch die Beurteilung der psychischen Gestimmtheit und Belastbarkeit, des sozialen Netzwerks und nicht zuletzt der Frage, wie sehr der Patient geistig auf der Höhe ist.

Wenn die Entscheidung gegen eine aggressive Therapie mit heilender Absicht fällt, dann geschieht das nicht gegen die Behandlung überhaupt: Linderung der Beschwerden, palliative Medizin und Pflege, ist ebenfalls Behandlung. Keine ganz leichte. Und, nebenbei, auch keine ganz billige.

Adelheid Müller-Lissner

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