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Gesundheit: Entscheidende Minuten

Ärzte, die sich bei der Darmspiegelung genug Zeit lassen, entdecken mehr Verdächtiges als schnelle Kollegen

Soll ich oder soll ich nicht? In Sachen Krebsfrüherkennung zaudern besonders viele, wenn es um die Darmspiegelung geht. Diese Untersuchung steht zwar allen Kassenpatienten über 55 Jahren alle zehn Jahre zu. Doch die Vorbereitung gilt als unangenehm. Denn dafür muss der Darm mitTrinklösungen und Abführmitteln gründlich gereinigt werden. Belohnt wird die Prozedur mit dem guten Gefühl, für die nächsten zehn Jahre schon mal eine Sorge los zu sein. Ob das stimmt, hängt nicht zuletzt davon ab, wie viel Zeit sich der Arzt bei der Fahndung nach verdächtigen Veränderungen gelassen hat. Das zeigt eine neue Studie.

Weil sich ein Tumor im Darm in neun von zehn Fällen aus gutartigen Polypen entwickelt, die sich Jahre zuvor an der Schleimhaut bilden und die sich bei einer Darmspiegelung orten und entfernen lassen, ist die Vorsorgestrategie ausgesprochen plausibel. Für die Untersuchung wird ein biegsames Rohr, in das eine Videokamera integriert ist, von seinem unteren Ende aus bis zum Blinddarm vorgeschoben. Auf dem Rückweg kann der Magen-Darmspezialist dann auf dem Monitor die Schleimhaut begutachten und dabei gegebenenfalls Polypen gleich entfernen oder eine Gewebeprobe nehmen.

Um diesen geordneten Rückzug ging es in der Untersuchung, die im Fachblatt „New England Journal of Medicine“ (Band 355, Seite 2533) erschienen ist. Magen-Darm-Spezialisten um Robert Barclay von der Universität von Illinois in Rockford werteten für ihre Studie 2053 Vorsorge-Darmspiegelungen aus, die in einem Zeitraum von 15 Monaten von zwölf erfahrenen Gastroenterologen vorgenommen wurden. Die Patienten ließen sich dagegen zum ersten Mal in den Darm schauen.

In allen Fällen wurde registriert, wie lange die Untersuchung dauerte und wie viele Veränderungen dabei gefunden wurden. Die Zeiten für die Routineinspektionen variierten dabei beträchtlich zwischen drei und 20 Minuten. Klares Ergebnis: Die drei Untersucher, die weniger als sechs Minuten brauchten, entdeckten deutlich weniger Veränderungen als jene, die sich mehr Zeit nahmen. Sie fanden nur in knapp zwölf Prozent der Fälle etwas, während die gewissenhafteren Kollegen bei etwa 28 Prozent der Untersuchten irgendeine Auffälligkeit feststellten. Darunter auch mehr Geschwulste, die sich bei genauerer Betrachtung als bösartig erwiesen.

Das Ergebnis passt zu einer Empfehlung der American Society for Gastrointestinal Endoscopy und des American College for Gastroenterology, in die eine Rückzugszeit von nicht weniger als sechs Minuten aufgenommen wurde. In der Bezahlung schlägt sich die Sorgfalt allerdings nicht nieder. Weder in den USA noch in Deutschland, wo der Faktor Zeit in die einschlägigen Qualitätskriterien bisher noch nicht Einzug gehalten hat.

Sind die amerikanischen Ergebnisse auch bei uns gültig? „Man kann die Daten im Wesentlichen übertragen: Die Zeit, die in die Darmspiegelung investiert wird, ist ein Qualitätsmerkmal", sagt der Gastroenterologe Heinrich Lübke vom Berliner Helios-Klinikum Emil von Behring. Deshalb könne es sinnvoll sein, auch hierzulande Empfehlungen für Zeitabläufe festzulegen. „Zur Gründlichkeit müssen aber Erfahrung und die bestmögliche Technik kommen, die uns den Blick hinter Falten und auf Unregelmäßigkeiten der Schleimhaut ermöglicht.“

Zwar sind die meisten Veränderungen harmlos, nur etwa jeder zehnte Polyp würde sich unentfernt wirklich zur Gefahr auswachsen, heißt es in einem Kommentar im „New England Journal“. Die Größe ist für das Krebsrisiko aber leider nicht das einzige Kriterium. Tückisch sind etwa flach wachsende, schwer erkennbare Vorstufen von Krebs. Gegenüber ihren Konkurrenten aus der Radiologie, die inzwischen die „virtuelle“ Darmspiegelung mit Computer- oder Magnetresonanztomographie anbieten, können die Magen-Darm-Spezialisten ihre Überlegenheit bei der Entdeckung gerade dieser kleinen Veränderungen anführen.

In den Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten wird gefordert, alle Veränderungen über einem Zentimeter Durchmesser müssten aufgespürt werden. Dagegen sei es zu tolerieren, wenn jede fünfte Veränderung unter fünf Millimeter und etwa jede zehnte zwischen sechs und zehn Millimetern Durchmesser dem Untersucher entgehe.

Darmkrebs ist einer der häufigsten Tumoren. Jährlich erkranken in Deutschland 75 000 Menschen neu, fast 30 000 sterben daran. „Man kann mit der Vorsorge das Krebs-Risiko nicht ganz ausschalten, aber es deutlich reduzieren", sagt Lübke. Wie deutlich, das hängt auch von der Zeit ab, die der Arzt sich nimmt. Robert Barclay und seine Kollegen setzen inzwischen einen Wecker ein, der während der Rückzugsphase im Zwei-Minuten-Abstand klingelt und sie daran erinnert, wie sie in der Zeit liegen. Vielleicht sollten Patienten zur Darmspiegelung eine Eieruhr mitbringen.

Adelheid Müller-Lissner

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