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Gesundheit: Erblast

Das „Prader-Willi-Syndrom“: Wie eine Chromosomen-Schädigung zu unkontrollierbarer Esssucht führen kann

„Eine Grundregel haben wir: Bei uns wird niemals mit Essen bestraft oder belohnt.“ Die Preise beim Kindergeburtstag sind keine Süßigkeiten. Und auch Nutella fehlt auf dem Frühstückstisch der Familie Förster*.

Die beachtliche ernährungspädagogische Konsequenz tut sicher den Zähnen und der Gesundheit aller Mitglieder der vierköpfigen Familie gut. Sie hat darüber hinaus aber noch einen besonderen Grund. Er heißt „Prader-Willi-Syndrom“ (PWS).

Das ist eine Erkrankung, die durch eine genetische Veränderung des Chromosoms 15 verursacht wird: Das väterliche Chromosom ist geschädigt, oder es liegen zwei mütterliche Kopien vor (siehe Kasten). Eines von 10000 bis 15000 Kindern kommt mit der Behinderung zur Welt. Der achtjährige Michael Förster ist so ein Kind.

Als er noch ganz klein war, fiel seine Schlaffheit auf: Die Muskelspannung der Kinder, die das Syndrom haben, ist deutlich herabgesetzt, bei einigen fällt der Mutter schon während der Schwangerschaft auf, dass das Ungeborene sich wenig bewegt. Die Babys tun sich oft mit dem Saugen schwer. Später werden sie dafür meist von einer unstillbaren Esssucht befallen.

„Ich passe auf wie ein Schießhund“

Grund ist eine Störung im Hypothalamus, einem Teil des Zwischenhirns, in dem unter anderem über Hunger- und Sättigungsgefühle entschieden wird. „Gemein ist, dass Prader-Willi-Kinder außerdem wenig Energie brauchen, weil sie wenig Muskulatur haben“, sagt Susanna Wiegand, Kinderärztin und Stoffwechsel-Expertin am Sozialpädiatrischen Zentrum der Berliner Charité, Campus Virchow.

Die Kinder werden meist schon früh übergewichtig. Stoffwechselkrankheiten wie Diabetes können die frühe Folge sein. Die Eltern sehen sich oft gezwungen, Nahrungsmittel streng unter Verschluss zu halten. Ältere Kinder schleichen nachts in die Küche oder stehlen an anderen Orten Lebensmittel. „Mein Sohn ist dünn, aber ich passe auch auf wie ein Schießhund“, sagt Michaels Mutter.

Der Achtjährige könnte zu den PWS-Kindern gehören, die mit dem Essen nur ein geringfügiges Problem haben. „Heute wird PWS dank früher Tests bei mehr Kindern entdeckt, manche von ihnen bewegen sich sozusagen am Rand des Normalen“, sagt Wiegand. Wie auch immer: Die Reglements gelten bei den Försters für die ganze Familie. Ihre gesunde zehnjährige Tochter findet das nicht immer gerecht.

Seit 1994 kann das Syndrom schon beim Säugling anhand einer Erbgutanalyse diagnostiziert werden. Auch wenn es hart ist und das Leben mit dem neuen Familienmitglied oft schon früh überschattet: Es ist besser, wenn die Eltern früh Bescheid wissen. Denn dann verstehen sie, warum die Entwicklung ihres Kindes verzögert ist, sie sind darauf vorbereitet, dass es erst spät beginnen wird zu krabbeln und zu laufen. Und sie können in Zusammenarbeit mit den Ärzten und anderen Therapeuten seine Entwicklung wirkungsvoller fördern und Folgekrankheiten besser eindämmen.

Viele Eltern haben selbst schon früh den Verdacht, dass mit ihrem Kind etwas nicht stimmt, doch ihr Haus- oder Kinderarzt zieht die seltene Erkrankung nicht in Betracht. Oft vergehen auch heute noch Jahre, ehe ein Arzt auf diese Idee kommt. „Vor kurzem wurde uns ein Fünfjähriger erstmals vorgestellt, bei dem die Sprachentwicklung in der charakteristischen Art verzögert war“, sagt Susanna Wiegand. Die gezielte Förderung durch einen Logopäden, der sich mit der Muskelschwäche beim Prader-Willi-Syndrom auskennt, hätte eigentlich schon früher einsetzen können.

Die Essstörung ist es, was bei den meisten PWS-Kindern am stärksten auffällt. Sie haben aber auch andere Verhaltensauffälligkeiten, zum Beispiel einen starken Drang nach Routine im Alltag. Auch Michael braucht einen strukturierten Tagesablauf. Wenn der sich verändert, regt er sich sehr stark auf und wird wütend.

Hormone, die den Hunger steuern

Manche Kinder erscheinen ihrer Umgebung deshalb als stur. Doch wenn in der Familie und in der Schule Rücksicht auf dieses starke Bedürfnis nach Strukturen genommen wird, sind die meisten Prader-Willi-Kinder fröhlich und auch Fremden gegenüber offen. So erlebt auch Michaels Mutter ihren Sohn. PWS ist allerdings eine Erkrankung, die auch das Lernen schwer macht. Der Intelligenzquotient liegt im Durchschnitt bei 70.

Was wird die Forschung für PWS-Betroffene bringen? Susanna Wiegand wünscht sich vor allem, „dass wir im Bereich der Appetitregulation mit Medikamenten weiterkommen“. So hat man etwa Hormone wie Ghrelin im Visier, die den Hunger steuern. Diese Forschung könnte auch „gesunden“ Übergewichtigen zugute kommen. Allerdings ist der Weg zu Arzneimitteln, die sich für eine dauerhafte Einnahme eignen, noch weit.

* Namen von der Redaktion geändert

Weitere Informationen: Regionalgruppe Berlin/Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, Telefon 030-40636273.

Im Internet: www.prader-willi.de

Adelheid Müller-Lissner

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