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Sensibel. Die Organe im Beckenbereich beeinflussen sich oft gegenseitig.

© IMAGO

Erkrankungen am Darm: Das große Tabu

Über Erkrankungen im Becken- und Darmbereich sprechen viele aus Scham nicht – und gehen erst spät zur Untersuchung. Dabei sind die Behandlungsmöglichkeiten viel besser als früher.

Jörg Berger (Name geändert) war sogar noch Skifahren gewesen. Und das, obwohl  er bereits seit drei Jahren an Hämorrhoiden litt, das letzte Dreivierteljahr sehr stark. „Ich musste bei jedem Gang zur Toilette feststellen, wie viel Blut ich wieder verloren habe“, erzählt der 57-jährige Stadtangestellte aus Falkensee. Die Hämorrhoiden zwangen ihn, das Skifahren immer wieder zu unterbrechen. Über seine Beschwerden sprach er nur in der Familie. Den Freunden, die ihn im Urlaub begleiteten, sagte er: „Ich muss zur Toilette.“

Millionen von Menschen in Deutschland leiden unter Erkrankungen im Beckenbereich. Viele von ihnen haben als Folge tägliche Beschwerden beim Gang zur Toilette. Dazu gehören Menschen mit funktionalen Störungen wie Harn- und Stuhlinkontinenz, unter der allein fünf Prozent der Bevölkerung leiden. Dazu kommen Beschwerden infolge chronisch entzündlicher Darmkrankheiten wie Morbus Crohn und Harn- und Darmstörungen, die als Folge von Tumoren oder anderen Krankheiten auftreten. Für das gesamte Spektrum der Beckenerkrankungen haben sich die medizinischen Behandlungsmethoden in den letzten 10 Jahren allerdings stark verbessert. Trotzdem lässt sich die Mehrheit der Patienten nach wie vor sehr spät behandeln, zum Teil erst nach einem langen psychosozialen Leidensdruck.

Für Thilo Schwalenberg, Urologe und fachübergreifender Experte für Beckenerkrankungen am Evangelischen Waldkrankenhaus Spandau, hat das auch mit dem Schamgefühl zu tun, das an Erkrankungen des Harn- und Darmtraktes geknüpft ist. Erst kürzlich kam eine 80-jährige Frau in seine Sprechstunde für Darmerkrankungen. Sie trug einen Schwimmreifen. Ihr gesamter Beckenboden war abgesenkt, das letzte Stück des Darms schaute schon fünf Zentimeter aus dem After heraus. Sie brauchte den Schwimmreifen, um schmerzfrei sitzen zu können. Die Beschwerden hätte sie erst seit kurzem, erklärte die Patientin Thilo Schwalenberg. Doch ihr Sohn, der sie begleitete, signalisierte, dass sie wohl schon seit Jahren inkontinent war. Er wasche die Wäsche seiner Mutter, da kriege man manches mit.

Thilo Schwalenberg
Thilo Schwalenberg

© Manuel Tennert/PGD

Schwalenberg beobachtet seit Jahren, dass besonders Personen, die pflegebedürftig sind, eine chirurgische Therapie vorenthalten wird. Er vermutet, dass es in Pflegeheimen an Ansprechpersonen fehlt. „Gesprochen wird meistens erst dann, wenn infolge der Inkontinenz eine chronische Infektsituation und entzündliche Veränderungen im Hautbereich vorliegen“, sagt er. Deshalb sollte man, sobald die tägliche Harn- und Stuhlleerung gestört ist und man sich dadurch beeinträchtigt fühlt, einen Arzt kontaktieren.

Über Probleme im Harn- und Darmtrakt werde häufig immer nur in Bezug auf dieselben Krankheitsbilder gesprochen, sagt Schwalenberg: Hämorrhoiden, Inkontinenz, vielleicht Morbus Crohn. Die Probleme können aber auch Folgeerscheinung anderer Krankheiten sein: Patienten mit Spina Bifida, die wegen Fehlbildungen der Wirbelsäule körperlich eingeschränkt sind, können Darm und Blase häufig eingeschränkt oder gar nicht kontrollieren. Auch bei fast allen Patienten mit Multipler Sklerose, einer chronisch- entzündlichen Erkrankung des zentralen Nervensystems, treten nach zehn Jahren Darm- und Blasenfunktionsstörungen auf. Die psychosoziale Belastung, die damit einhergeht, ist für all diese Patienten mit unterschiedlichen Krankheitsbildern ähnlich gravierend.

Viele Patienten wissen nicht, welche Behandlungen heute möglich sind

Thilo Schwalenberg, der auch gynäkologisch und darmchirurgisch gearbeitet hat und nun in Berlin seinen zweiten Facharzt in Visceralchirurgie macht, setzt sich am Evangelischen Waldkrankenhaus für ein umfassendes Verständnis des Beckens ein. Hängen die Organe in ihrer Entstehung und über ihre zentralen Schaltstellen im Körper biologisch eng zusammen, so bedingen sich auch Störungen oft gegenseitig. Erkrankungen im Enddarm- und Beckenbodenbereich werden nicht selten durch Veränderungen des harnableitenden Systems oder der Geschlechtsorgane mit verursacht. Patienten, denen ein Tumor im Darm entfernt wurde, sind zum Teil von Harninkontinenz betroffen. Besonders bei Operationen von Darmkrebs, der sich schnell auf benachbarte Organe ausbreitet und verstreut, ist organübergreifende Expertise nötig. „Wir verstehen das Becken als Organsystem“, sagt Schwalenberg.

Vor allem die operativen Behandlungsmethoden haben sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren stark weiterentwickelt, etwa bei Blasenschrittmachern, künstlichen Darmausgängen oder der Rekonstruktion einer Blase durch Darm. Den Patienten sind diese vielseitigen Möglichkeiten von Eingriffen aber häufig nicht bekannt. Bei den Untersuchungsmethoden wie Darm- und Blasenspiegelung hat sich hingegen vergleichsweise weniger verändert. Auch die Untersuchung sei für viele Patienten schambesetzter als vergleichsweise die Kontrolle der Herzaktivität mit einem Elektrokardiogramm.

Jörg Berger war mit der Untersuchung selbst eigentlich gar nicht so spät dran. Sein Vater hatte Darmkrebs, deswegen hat er sich auf Anraten seines Hausarztes relativ schnell zur Darmspiegelung entschlossen. Auch wenn es ihn einige Überwindung gekostet hat. „Die Spiegelung war nicht angenehm“, erzählt er, „aber immerhin hatte ich keine Schmerzen dabei.“ Die Entscheidung zum operativen Eingriff an den Hämorrhoiden stellte für ihn eine größere Hürde dar. Als ihn sein niedergelassener Arzt 2013 vor die Wahl stellte, man müsse früher oder später operieren, entschied er sich für später. „Ich muss sagen, ich bin ein Angsthase“, meint Jörg Berger. Das lange Verschleppen der Behandlung empfand er zunehmend als belastend. „Man trägt die Krankheit ja nicht nur in sich selbst, sondern überträgt sie auch auf die Familie“, meint er. Je länger er krank war, desto gereizter wurde er auch im Umgang mit seinen Nächsten. Das fiel ihm aber erst rückblickend auf. „Es ist wie ein kleiner, tückischer Kreislauf.“

Die Operation selbst, für die sich Jörg Berger nach dem Skiurlaub anmeldete, verlief komplikationsfrei: eine Nacht verbrachte er im Krankenhaus, insgesamt war er drei Wochen im Krankenstand. Das ist jetzt gut einen Monat her. Nun ist er ohne Medikamente beschwerdefrei und muss auch keine Diät halten. Auch Sommerurlaub ist schon wieder möglich.

Jetzt, nach seiner Operation, spricht er zum ersten Mal auch außerhalb der Familie über die Beschwerden – und ist überrascht über die detaillierten Nachfragen. Wie genau verlief die Untersuchung? Wie lange hat die OP gedauert? Bislang hat ihm niemand aus dem Bekanntenkreis offen gesagt, dass er ähnliche Beschwerden hat. Aber Berger vermutet, dass er nicht der Einzige ist.

Das Evangelische Waldkrankenhaus Spandau (Stadtrandstraße 555-561) bietet mittwochs und donnerstags eine proktologische Sprechstunde für Patienten mit Hämorrhoiden, Analfisteln und anderen Darmerkrankungen an. Terminvereinbarung unter Tel. 37 02 11 00. Weitere Informationen zum Darmzentrum: www.pgdiakonie.de/waldkrankenhaus

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