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Essstörung: Der Elefant im Bauch

In der Wohngemeinschaft „Bitter & Süß“ werden Jugendliche mit Essstörungen rund um die Uhr betreut – Magersüchtige, aber auch Übergewichtige.

Zwei schmale Mädchen sitzten nebeneinander auf einem breiten Sessel und kichern ein bisschen. Beide habe die Knie ans Kinn gezogen. Die eine ist blond, die andere brünett. Ihre Namen wollen beide nicht preisgeben. „Nennen sie mich Penelope wie die Frau von Odysseus“, sagt die Blonde lachend. Man könne sie ja Nora nennen, sagt die Brünette leise.

Die beiden sind die ersten Bewohnerinnen einer besonderen Wohngemeinschaft in Dahlem: „Bitter & Süß 2“ heißt die WG des Jugendhilfeträgers „Nachbarschaft hilft Wohngemeinschaft“ (NHW). In ihr leben junge Frauen ab 15 Jahren, die ein großes Problem mit dem Essen haben. Sie werden hier rund um die Uhr von Sozialpädagogen und Ernährungsberatern betreut. Das neue Konzept gibt es erst seit drei Monaten. Bei „Bitter & Süß 1“, der ersten WG des Trägers, gibt es wesentlich weniger Betreuung, nur ein paar Stunden pro Tag.

Beide WGs sind eigentlich auch für stark Übergewichtige gedacht. Aber noch wohnen nur die beiden schmalen Mädchen hier. Sie habe „Anorexia nervosa“ sagt Penelope, wieder lachend und klingt, als sei das etwas Normales. Magersucht – und das seit acht Jahren. „Ich war schon in allen möglichen Kliniken, habe schon 1000 Therapien hinter mir und bin zigmal bei meinen Eltern ausgezogen. Aber dann bin ich immer wieder in einer Klinik gelandet – und anschließend wieder bei meinen Eltern.“ Doch die scheinen eher Teil des Problems als der Lösung zu sein. „Ich kann das, was man mir in der Klinik beibringt, nicht in den Alltag übertragen“, sagt sie und klingt jetzt ernster. Deshalb wollte sie nach dem letzten Klinikaufenthalt unbedingt etwas anders machen. Und ging zur Beratungsstelle „Dick und Dünn“ in Schöneberg.

Die empfahlen ihr die WG. Seit etwas mehr als einer Woche wohnt sie nun in der riesigen Altbauwohnung mit den hohen Decken: „Hier ist immer jemand da, mit dem ich über meine absurden Probleme reden kann.“ Zum Beispiel, wenn sich das Abendessen in ihrem Bauch anfühlt „wie ein Elefant“, weil sie nicht akzeptieren kann, dass sie so viel gegessen hat.

Zusätzlich zu den Sozialpädagogen kommt fünfmal in der Woche eine Ernährungsberaterin für je sechs Stunden in die WG. Sie isst mit den Mädchen, „und wir diskutieren zum Beispiel darüber, ob eine große Scheibe Brot genauso viel zählt wie zwei kleine.“ Und ist das so? „Nein, leider nicht“, sagt Nora. Im Gegensatz zu Penelope, die so offen und übersprudelnd wirkt, möchte sie nicht viel von ihrer Geschichte preisgeben. Aber sie kann mehr vom betreuten Leben in der WG erzählen, sie wohnt hier schon seit drei Monaten, zunächst allein mit den Betreuern. Nora geht weiter zur Schule: „Das Leben hier ist soweit ganz normal, aber es ist eine geschützte Normalität“, sagt sie.

Ernst Pfeiffer ist leitender Oberarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Charité. „Die meisten Jugendlichen mit Magersucht brauchen nach der stationären Behandlung keine Jugendhilfemaßnahme“, erklärt er. „Sie sind danach ausreichend stabilisiert, um nach Hause zurückzukehren.“ Vor allem, weil die Eltern meist in die Therapie miteinbezogen werden. Aber bei etwa zehn bis zwanzig Prozent seiner Patienten empfiehlt er nach dem Klinikaufenthalt Jugendhilfemaßnahmen. Entweder einen Einzelfallhelfer oder eine Einrichtung.

„So eine WG kann eine wichtige Ergänzung zu anderen Therapieformen sein. Manche brauchen das“, sagt Pfeiffer. Bei der Behandlung von Magersucht müsse man immer eine Kombination von mehreren Maßnahmen anwenden. Auf seine Initiative hin hat NHW die 24-Stunden-WG eingerichtet. Ein Grund dafür ist, dass die Patientinnen immer jünger werden. „Bei den Eltern gibt es oft eine große Sorge, wenn ihre Töchter in eine Einrichtung ziehen“, sagt Manfred Jannicke, Sozialpädagoge und Leiter der beiden WGs. Er kann das einerseits verstehen: „Man muss bedenken, dass Magersucht eine Krankheit mit hoher Sterblichkeit ist. Trotzdem war er anfangs gar nicht für die 24-Stunden-Betreuung. „Man nimmt den jungen Frauen etwas von ihrer Selbstständigkeit.“ Aber in der ersten WG seien einige mit dieser Selbstständigkeit überfordert gewesen.

In der Nacht entstehen am ehesten depressive Krisen. „Es ist wichtig, dass ich weiß, dass immer jemand da ist“, sagt Penelope. „So können sich Verzweiflung und Probleme gar nicht erst von Mücken zu Elefanten aufbauen, weil man weiß, man kann jetzt mit jemandem darüber sprechen.“ Auch wenn sie es dann gar nicht tut. Ihr ist auch wichtig, dass bei den Mahlzeiten immer jemand aufpasst: „Wenn ich allein bin, fange ich sofort an, mich selbst zu betrügen: Die Portionen auf meinem Teller werden immer kleiner. Ich mache mir vor, dass ich bei der nächsten Mahlzeit dafür mehr esse.“ Aber das tut sie dann doch nicht. „Ich bin eine Verdrängungskünstlerin.“ Oft endete das bisher in einer Klinik, einmal musste sie dort sogar mit einer Sonde ernährt werden.

In den Kliniken hat es ihr meist nicht gefallen. „In der WG bekommt man professionell Unterstützung, ohne dass es so klinisch wirkt“, sagt sie. „Und man ist nicht mehr immer nur auf das Problem fixiert. Es geht auch um andere Sachen.“ Zum Beispiel um ihre Wollmütze. Die ist ihr gerade beim Waschen ganz furchtbar eingelaufen. „Und Nora hat mich ausgelacht.“ Jetzt lachen beide noch einmal darüber. Wäsche waschen will Penelope in den ein bis zwei Jahren hier lernen. Und wie es ist, wenn man Freunde hat: „Ich hatte seit der vierten Klasse keine mehr. Aber jetzt gibt es ja Nora.“

Informationen unter www.dick-und-duenn-berlin.de, www.bitter-und-suess.de

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