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9. Castilla y Leon-Modenschau - Luchina-Lizetta

© dpa

Essstörungen: Modekrankheit Magersucht?

Auf manchen Diät-Seiten im Internet werden Essstörungen zum Lifestyle erhoben. Wir haben im Netz Frauen getroffen, die gegen ihre Krankheit kämpfen. Die andere Seite der "Pro-Ana"-Bewegung

„Ich will nie wieder dick sein“, schreibt ein Mädchen, das sich Elfe nennt, auf einer Diätseite. Wer wissen will, wie viele Kalorien eine Scheibe Brot hat oder eine halbe Pizza – von ihr kommt die Antwort; rasend schnell tippt sie, zitiert aus Dutzenden von Ernährungsratgebern. Der Chatroom ist baff. Elfe gesteht, als „Pro Ana“ lese sie viel zum Thema. Am nächsten Tag tippt Elfe nicht mehr, der Moderator hat sie gesperrt. Unwiderruflich.

Nie wieder dick sein! Das wünschen sich viele.

Denn auf Pro-Ana-Seiten wird eine tödliche Krankheit verherrlicht, die Magersucht. Das schreiben nicht nur Boulevardmedien über das Phänomen, das Ende der neunziger Jahre in den USA aufkam. 2002 griff es auf deutschsprachige Webseiten über, seither titeln die Zeitungen „Hungern als Lifestyle“ oder „Süchtig nach dem Magertod“. Die personifizierte Anorexia nervosa sei unter dem Kosenamen „Ana“ beste Freundin für ausgemergelte Mädchen. Sich im Schlankheitswahn an retuschierten Fotos dürrer Models zu berauschen, einander bei Abnehm-Contests in den Tod zu treiben und sektenartig neue Mitglieder zu rekrutieren. Bei der sachlichen Elfe kann man sich das gar nicht vorstellen. Wie also kam sie zu Pro Ana? Ihre Kontaktdaten hat der Online-Moderator gelöscht, aber Elfes Email-Adresse vergisst man nicht.

„You got mail“ kündigt sich fünf Minuten später Post an. Elfe. Sie will mit Reportern nichts mehr zu tun haben. Ihr Forum habe „denen“ schon öfter vertraut. Und sich hintergangen gefühlt: „Immer zeigen sie nur die Spitze des Eisbergs“. Denn Kurzzitate wie „Ich verdiene kein Essen“ blenden aus, „warum wir so was sagen“, Solche Satzfetzen würden zum Teil Diskussionen entrissen, die oft tagelang dauern und die komplexen Gründe zerpflücken. Journalisten gehe es doch bloß um die Quote, steht da weiter: „Darum treten auch nur schrecklich abgemagerte Anorektiker vor die Kamera.“ Bulimiker sind meist schlank, sehen aber nicht krank aus. Doch sie „leiden genauso“, sagt Elfe, weil ihr Leben in einer Abwärtsspirale aus Essen und Brechen steckt.

Essstörungen sind ernste Erkrankungen. Sie lassen sich nicht einfach abschütteln.

Und diese typische Ana, auf die alle Zeitschriften das Phänomen eindampfen, die Teenagerin, die für ihre Traumfigur anorektisch werden will, gibt es die aus ihrer Sicht? Elfe schreibt tatsächlich noch einmal zurück: Ja, die „Wannabes“ gäbe es. Die hätten aber keine Ahnung, was eine Magersucht oder Bulimie bedeute: „Nur darum wollen sie sich eine antrainieren!“ Am einen Ende des Spektrums tummeln sich diese Möchtegerns, am anderen kämpfen die chronisch Kranken mit ihrem eigenen Kopf und Körper. Zu ihnen zählt sich Elfe: „Wenn wir auch nach vielen Therapien nicht aus der Essstörung herausfinden, bleibt uns nichts anderes übrig, als irgendwie mit ihr zu leben – sofern wir unsere Probleme nicht verdrängen wollen.“ Sie könne ihre Essstörung nicht einfach abschütteln: „In diesem Sinn ist Ana ein Teil meines Lebens.“ Weil sie zu dieser Erkenntnis stehe, nenne sie sich Pro Ana. „Ein schicker Lifestyle ist das aber nicht!“ Die Mail schließt: „Soll uns die Presse weiter verteufeln, wir liefern dafür kein Material mehr!“ Und was würde sie zu einem objektiven Bericht sagen? Elfe will ihr Forum abstimmen lassen, wegen eines Gastzugangs.

Was wissen Medizin und Psychologie eigentlich übers „Für-die-Anorexie-Sein“ sein? Zu 95 Prozent surfen Frauen zwischen 14 und 30 auf Pro-Ana-Seiten. Wie viele, dazu gibt es keine Zahlen. In der Bundesrepublik ist nach Informationen der Uni Ulm ein Prozent der weiblichen Bevölkerung zwischen 15 und 35 Jahren von Magersucht betroffen. Unter Anorexia nervosa werden festgelegte Diagnose-Kriterien subsumiert, sie beschreiben eine komplexe psychosomatische Krankheit. Die Betroffenen essen möglichst wenig, um „die Kontrolle“ zu behalten. Dabei rotieren ihre Gedanken nur um Kalorien. Oft lenkt ein extremer Perfektionismus in Beruf und Sport die Magersüchtigen zeitweise ab. Doch da sie das chronische Gefühl haben, nicht „gut genug“ und zu dick zu sein, fühlen sie sich durch das Abnehmen auch nicht wohler. Selbst dann nicht, wenn sie bereits stark untergewichtig sind.

Das Phänomen Pro Ana hat noch niemand allgemeingültig definiert. Klar ist nur: Essgestörte begannen, sich anonym im Internet zu treffen und „für die Magersucht“ zu sein. Manche davon haben die Diagnose Anorexie. Die Psychologin Julie Hepworth sagt: „Auf der Seite informieren sich eher Frauen, die Diät machen.“ Viele, die dort mitlesen, erkranken niemals an Magersucht.

Die Pro-Ana-Bewegung im Internet ist kaum erforscht.

Das Konzept Pro Ana scheint ziemlich vage. Wie Insiderin Elfe es wohl auslegt? Auch diesmal mailt sie postwendend zurück. So unterschiedlich wie die Anas selbst sind (darunter Anorektiker mit Heißhungerattacken und stark Übergewichtige), werde auch Pro Ana definiert. Manche beschrieben die Einstellung als „Krankheit“, andere als „extreme Diät“ oder „Lifestyle“. Saubere Abgrenzung, Fehlanzeige. Ach ja, und wegen des Zugangs zum Forum diskutiere sie noch.

In den öffentlichen Bereichen der Homepages kann man alles über „sicheres Essen“ nachlesen. Triviale Diätratschläge stehen hier neben retuschierten Fotos oft ausgemergelter Prominenter, flankiert von Zitaten wie „Dünn sein ist wichtiger als gesund sein“. Mit einem Body-Mass-Index (BMI) zwischen 14 und 19 (der normale BMI bei jungen Frauen beträgt 19 bis 24) sind medizinisch gesehen ein paar davon Todeskandidatinnen. Pro Ana schürt zu Recht Emotionen. Auch bei deutschen Experten. Trotzdem haben sie das Thema bisher kaum beachtet. Während die Essstörungen selbst gut erforscht sind, gibt es bisher nur eine Untersuchung der Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Uniklinikum Freiburg zu der Pro-Ana-Bewegung im Netz. „Wer auf diesen Seiten verkehrt, hat meist sehr wohl eine Krankheitseinsicht“, sagt Oberärztin Almut Zeeck, Betreuerin der im Juni 2007 abgeschlossenen Studie.

Im Jahr davor forschte Ruaidhri Mulveen am schottischen Queen Margaret University College zum Thema. Der Psychologe konnte damals noch sechs Wochen lang 15 kontroverse Online-Gespräche verfolgen. Jedes Forum ist in Themenbereiche unterteilt, wo Mitglieder auch Fotos ihrer Haustiere zeigen oder selbst gemalte Bilder. Sie erzählen von Schlägen und Vergewaltigungen, begreifen solche Erfahrungen zum Teil als Quelle ihrer psychischen Probleme. Wie reflektiert die Anas sind, beschreibt Mulveen im „Journal of Health Psychology“.

Betroffene sind im Zwiespalt. Sie wollen gesund werden und doch wieder nicht.

Beobachtungen, denen die magersüchtige „Feather“ auf ihrer Homepage zustimmt. Seit ihrer Kindheit leidet die 30-jährige Medizinerin an Anorexie, Pro Ana sei sie aber nie gewesen. Feather kennt die hauptsächlich von Gymnasiastinnen und Studentinnen bevölkerte Online-Szene, seit es sie gibt. Viele wollten gesund werden – und dann auch wieder nicht. Diese Ambivalenz gehört zur Krankheit. Viele Essgestörte erleben sie in sich, oft unverstanden von Eltern und Freunden. Auf Pro-Ana-Foren dagegen kann man über all das reden. Zusätzlich besuchen die meisten Mädchen mindestens eine „gesunde“ Seite. Auch Feather scheint die Anorexie nicht zu verherrlichen. Sie weiß, dass etwa 15 Prozent den Kampf mit der Krankheit verlieren: „Mir ist klar, dass auch ich an ihr sterben könnte“, sagt sie. „Etwas in mir scheint die Magersucht aber zu brauchen, um andere Dinge zu kompensieren. Und gleichzeitig bringt sie mich um…“

Anorexie ist eine seltene Krankheit. Der Wunsch vieler „Wannabes“, genauso dünn zu sein wie die extrem mageren Vorbilder, ist dagegen ein häufiges Symptom der Zeit. Wie die Ana-Seiten. Einige hat man per Gerichtsbeschluss verboten, doch kaum geschlossen, tauchen sie bei einem anderen Provider wieder auf.

Ach so, was aus Elfes Abstimmung geworden ist? Das Forum hat entschieden: Journalisten müssen draußen bleiben.

Manuela Huber

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