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Evolutionsbiologie: Die Großmutter-Hypothese

Frauen stehen heute mitten im Leben, wenn ihre fruchtbaren Jahre zu Ende gehen. Um zu erklären, wie selbst die Menopause den Fortpflanzungserfolg erhöhen könnte, haben Evolutionsbiologen die „Großmutter-Hypothese“ entwickelt: Der Zweck einer Lebensspanne, in der die Frau keine eigenen Nachkommen mehr produziert, liege in der Unterstützung, die sie ihren erwachsenen Kindern geben kann, wenn die Eltern werden.

Frauen stehen heute mitten im Leben, wenn ihre fruchtbaren Jahre zu Ende gehen. Um zu erklären, wie selbst die Menopause den Fortpflanzungserfolg erhöhen könnte, haben Evolutionsbiologen die „Großmutter-Hypothese“ entwickelt: Der Zweck einer Lebensspanne, in der die Frau keine eigenen Nachkommen mehr produziert, liege in der Unterstützung, die sie ihren erwachsenen Kindern geben kann, wenn die Eltern werden.

Tatsächlich konnten Anthropologen anhand einiger traditioneller Gesellschaften zeigen, wie wichtig Omas sind: Junge Frauen, die von ihren Müttern unterstützt werden, bringen dort mehr Kinder zur Welt und können sie besser ernähren.

Das klingt plausibel – dennoch kommt nicht jeder zu diesem Ergebnis. Der Rostocker Evolutionsbiologe Jan Beise und sein Gießener Kollege Eckart Voland haben Kirchenregister der ostfriesischen Küstenmarsch nordwestlich von Emden aus dem 18. und 19. Jahrhundert durchforstet (veröffentlicht in: „Behavioral Ecology and Sociobiology“, Band 52, November 2002, und „Spektrum der Wissenschaft“, Januar 2003). Dabei erlebten sie einige Überraschungen: Zunächst mussten sie feststellen, dass Familien, in denen beide Großmütter noch lebten, keineswegs mehr Kinder bekamen. Viele Paare haben offenbar die Kinderzahl durch Verhütung begrenzt – ob es nun Großmütter gab oder nicht.

Auf das Überleben der Enkel wirkte sich deren Existenz in Zeiten hoher Kindersterblichkeit dagegen sehr wohl aus: Wenn beide Omas noch lebten, starben in den kritischen Phasen der ersten Lebensjahre deutlich weniger Kinder. Die zweite Überraschung: Die höhere Überlebenswahrscheinlichkeit ging allein auf das Konto der Großmutter mütterlicherseits. Die leibliche Mutter half ihrer Tochter wohl vor allem in der Phase des Abstillens: So senkte ihr Vorhandensein im zweiten Lebenshalbjahr die Säuglingssterblichkeit am meisten. Lebte nur noch die Mutter des Kindsvaters, waren dagegen die Chancen des Kindes, seinen fünften Geburtstag zu erleben, sogar schlechter als die eines Kindes, das gar keine Oma mehr hatte. Die Schwiegermutter war vor allem im allerersten Lebensmonat eher Risiko als Hilfe für die Wöchnerin. Zwang sie die junge Frau, schon kurz nach der Entbindung wieder hart im Haus und auf dem Feld zu arbeiten? Aber wie wäre ein solches Verhalten zu erklären, das letztlich doch dem eigenen Nachwuchs schadet?

Bislang fehlt eine Erklärung. Eine Großmutter väterlicherseits kann sich zwar nie ganz sicher sein, ob ihre Fürsorge wirklich dem eigenen Fleisch und Blut zugute kommt. Trotzdem erscheint es kaum vorstellbar, dass die ostfriesischen Daten für alle Omas aus der väterlichen Linie Gültigkeit haben: Aus evolutionsbiologischer Sicht muss die Gesamtbilanz des großmütterlichen Wirkens positiv sein, um die Verlängerung der Lebensspanne über die fruchtbaren Jahre hinaus zu erklären.

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