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Gesundheit: Forschung in Russland: Kein Geld für die Fahrt mit der Metro

Mit dem Eintippen von Texten klappt es noch halbwegs. Doch die Fehlerquote ist hoch: Balchis Karmyschewa schaut selten auf den Bildschirm des Uralt-Rechners, um ihre Augen zu schonen.

Mit dem Eintippen von Texten klappt es noch halbwegs. Doch die Fehlerquote ist hoch: Balchis Karmyschewa schaut selten auf den Bildschirm des Uralt-Rechners, um ihre Augen zu schonen. Wie sie die gerade geschriebene Passage aber speichern soll, noch dazu auf Diskette, das hat sie schon wieder vergessen. Verständlich - die Frau ist 86 Jahre alt.

Noch immer kommt die Top-Spezialistin für Wüstennomaden Zentralasiens einmal wöchentlich ins Völkerkunde-Institut der russischen Akademie der Wissenschaften. Vor vier Jahren hat Urenkel Timur ihr beigebracht, wie man einen Computer als Schreibmaschine benutzen kann. Seither versucht sie, Aufzeichnungen von Expeditionen aufzuarbeiten, die über vierzig Jahre zurückliegen. "Nach meinem Tod", sagt Karmyschewa und ihre Mandelaugen lächeln traurig, "haben die Zettel keinen Wert mehr." Wohl wahr. Alles ist handschriftlich erfasst, das meiste nur skizziert. Entschlüsseln kann solche Notizen daher nur der Verfasser selbst.

Für Karmyschewa ist das Schwerstarbeit. Längst fehlt die Kraft, sich systematisch mit den Aufzeichnungen zu befassen. Und wenn sie mal gut drauf ist, sitzt womöglich ein Kollege vor dem Computer. Den Computer müssen sich vier Wissenschaftler teilen, deren Arbeitszimmer keine zehn Quadratmeter misst.

Demnächst werde er das Thema wechseln, verspricht Karmyschewas Kollege und Leidensgefährte Wladimir Bassilow sarkastisch: Statt über Schamanen im Südsibirien und im Altai werde er ein Buch über artgerechte Haltung von Wissenschaftlern verfassen und Wladimir Putin ein signiertes Freiexemplar schenken.

Russland, das über ein Drittel seines Etats für Rüstung verpulvert, lässt seine Wissenschaft verhungern. Lehr- und Forschungseinrichtungen stehen nur vier Prozent der Haushaltsmittel zu. Theoretisch. In der Praxis wurde im letzten Jahr weniger als die Hälfte davon angewiesen - 15,9 MilliardenRubel. Das sind ganze 1,27 Milliarden Mark.

Physiker, Chemiker und Biologen zogen bereits Konsequenzen. Seit dem Zerfall der Union im Dezember 1991 wanderten bisher insgesamt 400 000 Forscher aus, um in den Labors des einstigen Klassenfeindes Karriere zu machen. Ihre Kollegen aus den geisteswissenschaftlichen Disziplinen dagegen stehen sich vor den Konsulaten klassischer Einwanderungsländer vergeblich die Füße platt: Ethnologen können keine Bomben basteln, Soziologen keinen Impfstoff gegen Aids entwickeln. Und Archäologen finden keine Bodenschätze, sondern nur die Überreste untergegangener Zivilisationen. Daher bekommen sie auch keine Zuschüsse aus Regierungsprogrammen anderer Staaten, mit denen sich viele russische Naturwissenschaftler über Wasser halten.

Die Ethnologen sind auf schlecht bezahlte Forschungsaufträge aus russischen Ministerien angewiesen. Die Gelder werden für Themen vergeben, die mit ihrem eigentlichen Forschungsgegenstand wenig zu tun haben - Flüchtlinge und Bürgerkriege. Zu Sowjetzeiten, sagt Institutsleiter Tischkow, gingen 30 Prozent seines Haushalts für Personalkosten drauf, 70 Prozent wurden in die Forschung investiert. Heute reichen die Mittel nicht einmal, um die miserablen Grundgehälter pünktlich zu zahlen. Seine Wissenschaftler gehen daher mit ganzen 600 Rubel im Monat nach Hause. Mit Zuschlägen und Prämien für Veröffentlichungen bringen sie es auf 900 Rubel (rund 72 Mark).

Für Forschung bleibt da fast nichts mehr übrig. Schon Anfang der Neunziger musste das Institut daher aus Projekten in Südamerika, Asien und Afrika aussteigen, mit denen es einst Weltgeltung erlangte. Mitte der Neunziger wurden Expeditionen in die ehemaligen Sowjetrepubliken eingestellt, 1998 in entlegene Regionen Russlands.

Geldmangel zwang Ethnologen und Archäologen inzwischen auch, ihren Lieblingstraum zu begraben: Eine Wiederholung der Großen Choresmien-Expedition. Ende der Dreißiger hatten mehrere sowjetische Akademie-Institute weltweit Furore gemacht mit Ausgrabungen alter Städte, wie Toprak- kale, einer Festung der Kuschan, die kurz nach der Zeitenwende im roten Sand der Wüste Zentralasiens versank.

"Heute hat die Wissenschaft ganz andere Methoden zur Verfügung. Die Ausbeute wäre wahrscheinlich sensationell", sagt Viktor Sarianidi. Der 72-Jährige gräbt seit Mitte der Neunziger in Turkmenien eine Palastanlage mit Totenstadt und Feuertempel aus, die aus dem dritten Jahrtausend vor Christus stammt. Die Gelder stammen von griechischen und italienischen Sponsoren, die zu versiegen drohen. Zentralasien ist Krisenregion, die Funde lassen sich touristisch nur schwer vermarkten. Das Moskauer Archäologische Institut aber, wo Sarianidi als ordentlicher Professor in Lohn und Brot ist, steuert keine Kopeke bei. Die ehemalige Sowjetrepublik Turkmenien ist Ausland.

Noch schlimmer dran ist Sarianidis Freund Boris Litwinski. Tag und Nacht bangt der Achtundsiebzigjährige um sein Lebenswerk: Taht i-Sangin, die steinerne Stadt aus der Zeit von Alexander dem Großen, die er 1980 im Süden Tadschikistans ausgrub und von der er nicht einmal Farbfotos hat: In der sowjetischen Mangelwirtschaft gab es keine. Jetzt aber, wo sie an jedem Kiosk zu haben sind, ist die steinerne Stadt so unerreichbar wie Seen auf dem Mond. Um die Region kämpfen bewaffnete Einheiten von Regierung und Opposition und außerdem liegt sie unmittelbar an der Grenze zu Afghanistan, wo die Taliban auf dem Vormarsch sind.

Litwinski ist noch immer Professor am Moskauer Institut für Orientalistik, wo das Durchschnittsalter der Wissenschaftler inzwischen bei 58 Jahren liegt. Kein Wunder bei einem Monatsgehalt von 800 Rubel für promovierte Jungwissenschaftler wie Litwinskis Assistentin. Als er sie bat, ihr Bücher aus der Staatsbibliothek zu besorgen, musste sie verlegen passen: Kein Geld für die Fahrt mit der Metro (fünf Rubel = 0,40 DM). Litwinski selbst muss für jede Seite, die er mit dem Kopierer ablichten lassen möchte, zwei Unterschriften einholen. Bei stellvertretenden Institutsdirektoren. Und wenn er die endlich hat, ist womöglich die Farbpatrone alle.

Litwinski ist im tadschikischen Duschanbe groß geworden, Freund Sarianidi im usbekischen Taschkent. Beide leiden sehr darunter, dass es kaum noch wissenschaftliche Kontakte mit der alten Heimat gibt. Das, meint Sarianidi, läge vor allem an politischen Ressentiments. An denen scheiterte bislang auch ein weiteres Großprojekt der Russischen Akademie der Wissenschaften - eine Enzyklopädie über die Völker und Kulturen der ehemaligen Sowjetunion in 40 Bänden erstmals ohne ideologische Zwänge zu verfassen.

Mit Mühe und Not haben Tischkow und dessen Ethnologen die ersten drei Bände zu den Ostslawen - Russen, Weißrussen und Ukrainern - zusammengestellt, an denen die Kollegen in Minsk und Kiew mitgearbeitet haben. Wann der vierte Band zu Kasachstan fertig wird, dazu wagt Tischkow keine Prognosen: "Bis jetzt haben die Kasachen nicht eine Seite geliefert." Kein Wunder, denn deren Kassen sind noch leerer als die der Kollegen in Moskau.

Kasachische Linguisten haben nicht einmal Geld für Audiokassetten, um die Rede des letzten Menschen aufzuzeichnen, der Tschagatai noch seine Muttersprache nennt. Die alte osttürkische Schriftsprache war nach den Mongolenstürmen im XIII. Jahrhundert lange Verkehrssprache Zentralasiens - einer Region, die größer ist, als der indische Subkontinent. Jetzt droht Tschagatai ins Dunkel der Geschichte zu versinken. Auch Hilferufe an die Türk dil kurumu, die Gesellschaft für türkische Sprache in Ankara, scheiterten an Geldmangel. Die Briefmarken seien zu teuer, fand die Institutsleitung.

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