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Gesundheit: Früher gab es keine Fruchtzwerge

Mehr als basteln und toben: Kitas sollen Kinder bilden, fordern Eltern, Politiker und Experten. Aber wie?

NEUGIERIG AUF DIE WELT – BILDUNG FÜR DIE KLEINSTEN

Von Dorothee Nolte

Elternabend, der erste im neuen Kita-Jahr, elf Mütter und zwei Väter haben ihre Knochen auf winzigen Stühlchen zusammengefaltet und harren der Dinge, die da kommen werden: Hinweise der Erzieherin zu den geeigneten Schühchen, zu Wechselwäsche, Essensregeln, geplanten Ausflügen und Festen? Ja, genau wie im letzten Jahr. Aber diesmal kommt die Leiterin der städtischen Kita in Wilmersdorf höchstpersönlich dazu, im Arm ein Bündel Umweltschutzpapier: „Das hier“, sagt sie und hält das Bündel in die Höhe, „ist der Entwurf für ein Berliner Bildungsprogramm für Kitas. Das werden wir jetzt erstmal durcharbeiten.“ Und halb erwartungsvoll, halb besorgt fügt sie hinzu: „Es soll sich viel verändern.“

Die Mütter und Väter aus insgesamt acht Nationen nicken mit mehr oder weniger Verständnis: Die Bildungspolitik, alles, was die Politiker in den letzten Jahren über „die Kita als Bildungseinrichtung“ gesagt haben, kommt in diesen Wochen in den Berliner Kitas an. Und auch in Saarbrücken oder Gelsenkirchen: In den meisten Bundesländern werden oder wurden Programme erarbeitet, die umreißen, was das bedeuten kann, „Bildung für Kindergartenkinder“. Heißt das Kurse in Frühenglisch und musikalischer Früherziehung, ein festgelegtes Curriculum, schreiben, lesen, rechnen lernen, heißt das womöglich auswendig lernen und Noten verteilen?

Wie backt man Waffeln?

Christa Preissing, die den Entwurf für ein „Berliner Bildungsprogramm für die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen“ mit erarbeitet hat, winkt ab. „In den Siebzigern gab es, als Reaktion auf den Sputnik-Schock, schon einmal eine Bewegung, Bildung in die Kindergärten zu bringen, mit Lese- und Konzentrationstraining, Mengenlehre und ähnlichem. Das war sehr verschult. Wir haben ein anderes Bildungsverständnis.“

In der Sprache der Pädagogen nennt es sich „Situationsansatz“ und bedeutet im Wesentlichen: Man geht von alltäglichen Situationen und den Interessen der Kinder aus und versucht, ihnen dabei Anregungen, Antworten und Gelegenheit zum Experimentieren zu geben. Auch beim Frühstück etwa kann man viel lernen: Welche Lebensmittel sind gesund und welche nicht, welche müssen frisch gekauft werden, wo kann man sie kaufen, was geschieht mit den Überresten und Verpackungen? Wie backt man Waffeln, was kann man alles aus Eiern machen?

„Bildung“ fängt schon bei den Räumen an, die möglichst anregend gestaltet sein sollen. Und sie erstreckt sich in dem Berliner Programm auf sieben Bereiche: „Körper, Bewegung und Gesundheit“, „Soziale und kulturelle Umwelt“, „Sprache, Kommunikation und Schriftkultur“, „Bildnerisches Gestalten“, „Musik“, „Mathematische“ sowie „Naturwissenschaftliche Grunderfahrungen.“

Ein Beispiel: Unter „Mathematische Grunderfahrungen“ etwa wird vorgeschlagen, Uhren und Waagen bereitzuhalten, mit den Kindern Einkaufslisten und Preisvergleiche aufzustellen, die Kita-Räume mit selbst erdachten Messinstrumenten auszumessen, Stadtpläne zu erstellen und so weiter. Einige Lernziele klingen erstmal abgehoben: Die Kinder sollen etwa, unter dem Stichwort „lernmethodische Kompetenzen“, erkennen, „dass die Welt historisch geworden und deshalb veränderbar ist und die Menschen Subjekte in diesem Prozess sind“. Aber auch das kann man zur Not beim Frühstück erörtern und ausprobieren: Was haben die Menschen früher gegessen? Hat es immer schon Nutella und Fruchtzwerge gegeben?

Der „Situationsansatz“ an sich ist nicht neu, er wurde in den Siebzigern entwickelt und, wie Preissing beklagt, häufig missverstanden: „Viele leiten daraus ab, sie könnten die Kinder einfach machen lassen, nach dem Motto: Wir warten, was der Tag so bringt.“ Genau das wird deutschen Kitas oft vorgeworfen: Sie überließen die Kinder dem „freien Spiel“ und nähmen sie nicht als Wissenssuchende ernst.

Nachdem auch die Hirnforschung nachgewiesen hat, wie wichtig die ersten Lebensjahre und ein ganzheitliches, sinnliches Lernen für die kognitive Entwicklung sind, etabliert sich nun langsam ein Konsens unter Wissenschaftlern, Politikern und Praktikern, dass eine Kita mehr bieten muss als ein bisschen Toben und Basteln. Eine Arbeitsgruppe um die FU-Kleinkindpädagogen Wolfgang Tietze und Susanne Viernickel hat, in Zusammenarbeit mit 250 Kitas im Bundesgebiet, einen „Nationalen Kriterienkatalog“ erarbeitet (siehe Kasten). Bei ihren Besuchen in zahlreichen Einrichtungen hat Susanne Viernickel festgestellt: „Besonders der naturwissenschaftliche und der sprachliche Bereich werden oft stiefmütterlich behandelt“. Erzieherinnen redeten nicht genug mit den Kindern oder gäben nur stereotype Kommentare ab („hast du gut gemacht“).

Der Berliner Entwurf ist allen Kitas zugegangen, öffentlichen ebenso wie freien Trägern. Er soll jetzt in Kindergärten, Verbänden und Gewerkschaften diskutiert werden. Das endgültige Programm wird im Laufe des nächsten Jahres als „verbindlicher Orientierungsrahmen“ für alle Berliner Kitas gelten, so der Pressesprecher des Bildungssenators, Thomas John: „Natürlich gibt es darin Freiräume, damit Erzieherinnen und Kitas eigene Schwerpunkte setzen können. Das Programm soll gerade nicht starr abgearbeitet werden, sondern Anstöße geben. Aber wir brauchen auch Verbindlichkeit, damit jedes Berliner Kind ähnliche Chancen bekommt." Christa Preissing hat den Eindruck, dass die meisten Erzieherinnen in Berlin das Programm positiv aufnehmen. „Viele sagen: Dadurch wird unsere Arbeit aufgewertet.“

Mehr Austausch mit den Eltern

Und wie geht es weiter für die Kinder in der Wilmersdorfer Kita? Wenn es nach Plan läuft, werden die Erzieherinnen Fortbildungen besuchen, im Team besprechen, welche Bildungsbereiche in ihrer Kita bereits gut abgedeckt sind und wo Defizite vorliegen: Können wir eine kleine Experimentierecke einrichten, mit Lupen, Pinzetten, Mikroskopen? Die Sprachen und Erfahrungen der nicht-deutschen Kinder stärker einbeziehen? Die Kinder an die Schrift heranführen?

Und die Eltern werden öfter als bisher auf den kleinen Stühlchen Platz nehmen dürfen, denn ein Kernpunkt des Programms ist der Austausch mit den Eltern. Sie sollen künftig auch zu Einzelgesprächen über die Entwicklung ihrer Kinder geladen werden – und sie werden, da die Erzieherinnen künftig Projekte und Fortschritte des Einzelnen dokumentieren sollen, mehr über die täglichen Abläufe in der Kita erfahren.

Bildung ist eben besonders im frühen Alter eine Sache von Beziehung und Gefühl – wenn die Bezugspersonen Begeisterung für Bücher, Musik oder Experimente zeigen, entwickeln auch die Kinder Interesse dafür. „Die Familie hat immer noch den größten Einfluss“, sagt Kleinkindpädagogin Susanne Viernickel. „Da kann die Kita so gut sein, wie sie will.“

Der Tagesspiegel wird in den nächsten Wochen darüber berichten, wie Kinder in den verschiedenen Bildungsbereichen gefördert werden können. Als erstes: Sprache.

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