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Geburten in Berlin: Frühchen im Stress

Babys, die zu bald zur Welt kommen, können dank moderner Medizintechnik schon ab der 22. Schwangerschaftswoche überleben. Aber das Risiko von Spätfolgen und die Belastung für die Eltern sind immer noch hoch. Ein Besuch im Vivantes-Klinikum Neukölln.

Die fünfjährige Leni sitzt auf dem Schoß ihrer Mutter, isst Kekse und malt. Dass sie drei Monate zu früh zur Welt gekommen ist, hat so gut wie keine Spuren hinterlassen. Nächstes Jahr wird sie in Prenzlauer Berg eingeschult. Alle Entwicklungstest für den Schulbeginn hat sie mit besten Ergebnissen abgeschlossen. „Leni ist ein sehr soziales Kind und eine Kämpfernatur“, sagt ihre Mutter Sylvia Körner.

Für die Mutter waren die frühen Wehen ein traumatisches Erlebnis

Kämpfen musste das Mädchen mit den hellblonden Haaren schon in den ersten Lebenswochen. In der 27. Schwangerschaftswoche bekam ihre Mutter während eines Ausflugs in der Uckermark vorzeitige Wehen. Nach einer hektischen Rückkehr nach Berlin kam ihre Tochter per Notkaiserschnitt im Klinikum Neukölln zur Welt. Mit nur 950 Gramm Körpergewicht wog sie weniger als ein Drittel des Gewichts eines Normalgeborenen. Ihre Überlebenschancen waren ungewiss. Im Brutkasten musste ein Gerät die Atmung unterstützen, da die Lungenfunktion noch nicht ausgereift war – das ist sie typischerweise erst ab der 34. Schwangerschaftswoche. Für ihre Mutter waren das vorzeitige Ende der Schwangerschaft und die darauffolgenden Wochen ein traumatisches Erlebnis: „Als ob mir jemand das Kind aus dem Bauch gerissen hätte. Ich konnte es nicht mehr beschützen“, erinnert sie sich. Immer wieder musste sie ihre Tochter weggeben in die Obhut der Ärzte. Erst drei Monate später durften sie und ihr Mann Leni mit nach Hause nehmen.

Vorboten gab es für die 43-Jährige, die vor Leni bereits zwei Söhne gesund zur Welt gebracht hat, keine. Bis zu Beginn der 27. Woche verlief ihre Schwangerschaft normal. Auslöser für die frühen Wehen war eine unbemerkte Infektion im Genitalbereich – eine der häufigsten Ursachen für Frühgeburten. Frauen können sich kaum dagegen schützen. Weitere Ursachen: eine Schwangerschaftsvergiftung, Diabetes oder eine Durchblutungsstörung der Plazenta.

Ab der 23. Woche sind Babys überlebensfähig

Als Frühchen gilt ein Kind, wenn es vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt kommt. Ab der 23. Woche, in seltenen Fällen auch schon ab der 22., sind Babys oft dank medizinischer Technik überlebensfähig. Die Chancen verbessern sich mit jeder Woche, hängen jedoch von Gewicht und Gesundheitszustand ab. Nur wenige Kliniken in Berlin verfügen über eine Neugeborenenintensivstation, ein sogenanntes Perinatalzentrum, das auch sehr kleine Frühchen – vor der 26. Woche – aufnimmt. Neben dem Virchow-Klinikum der Charité gehört dazu das Vivantes-Klinikum Neukölln. „Auch wenn Kinder dank der Medizin schon früh überleben können, muss alles versucht werden, sie so lange wie möglich im Mutterleib zu lassen“, sagt Rainer Rossi, Leiter der Kinderklinik und Spezialist für Neugeborenenmedizin in Neukölln. Geburtsmediziner und Kinderärzte arbeiten vor und während der Geburt eng zusammen, denn jeder Tag mehr im Bauch der Mutter ist ein Segen. Zwar erleiden Frühgeborene immer seltener Schäden wie Behinderungen. Doch durch den Stress, den sie in den ersten Lebenswochen erfahren, bleiben sie häufig in den ersten zwei Jahren in ihrer Entwicklung zurück und erkranken häufiger an Infekten. „Sie brauchen noch Jahre danach intensivere Kontrolle und Betreuung“, erklärt Rossi. Das Mutter-Kind-Zentrum des Klinikums Neukölln betreibt zu diesem Zweck einen Förderverein, über den viele Familien den Kontakt zu Ärzten und Klinikmitarbeitern halten. So auch Familie Körner.

Auf der Neugeborenenintensivstation liegen aktuell zehn Babys in den Brutkästen. Geräte überwachen Atmung und Herz-Kreislauf-Funktionen, die Brutkästen regulieren Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Die Frühchen sind deutlich schmaler und mit etwa 25 cm Länge nur halb so groß wie reif Geborene. Eines von ihnen, das wie Leni in der 27. Woche auf die Welt gekommen ist, wiegt nur 670 Gramm. Zum Vergleich: Ein Kind, das zeitgemäß zwischen der 37. und 41. Woche geboren wird, wiegt in der Regel zwischen 3200 und 3500 Gramm.

Die beste Medizin ist eine stabile Eltern-Kind-Bindung

Viele Eltern sind da, die ihre Kinder besuchen. Sie schauen ihnen beim Schlafen zu oder nehmen sie aus den Betten. „Früher waren die Frühchenstationen viel abgeschirmter“, sagt Rossi. Es gab feste Besuchszeiten, die Eltern konnten ihre Kinder nur wenige Stunden am Tag mit Mundschutz und Kittel besuchen. In den Anfängen der Neugeborenenmedizin ging es in erster Linie darum, dass das Kind überlebt, erklärt Rossi. Heute soll zusätzlich die Überlebensqualität gesichert werden, damit mögliche Spätfolgen wie Hirnschäden, Atemwegserkrankungen oder Infektionen vermindert werden. „Die Erkenntnis hat sich durchgesetzt, dass die beste Medizin dafür eine stabile Eltern-Kind-Bindung ist“, sagt er. Die Station sei heute familienfreundlicher. Die Türen stehen den Eltern durchweg offen. Wohnen sie zu weit entfernt, können sie kostenlos im vor einem Jahr eröffneten Elternhotel übernachten. Gerade praktiziert eine der Mütter die von Ärzten empfohlene Känguru-Methode. Sie legt das nackte Kind auf ihren ebenfalls unbekleideten Oberkörper und deckt es zu. Der Haut-zu Haut-Kontakt soll die emotionale Bindung stärken und die Sinne des Säuglings anregen. Auch Väter sollten das „Känguruing“ möglichst mehrere Stunden am Tag durchführen, erklärt Rossi.

Entlassen werden können die Kinder, sobald sie ein bestimmtes Gewicht erreicht haben, Kreislauf- und Atmungsfunktionen stabil sind und sie selbstständig ihre Temperatur halten. Doch damit endet die intensive Betreuung noch lange nicht. Kurz nach der Entlassung erkrankte Leni an einem Erkältungsvirus, dem RS-Virus, der die Atemwege verschleimt. „Zweimal wäre sie fast erstickt“, erzählt die Mutter. Immer wieder musste Leni für mehrere Wochen ins Krankenhaus. „Für mich hat sich so das Trauma der Frühgeburt fortgesetzt.“ Leni ist nach wie vor häufiger krank als gleichaltrige Kinder, bekommt schnell eine Lungenentzündung und benutzt daher täglich ein Kortisonspray. Doch diese Krankheitssymptome sollen sich bald auswachsen.

Studien zeigen, dass Frühgeborene häufiger am Aufmerksamkeitsdefizit ADHS leiden. Und dass sie häufiger als andere Kinder in ihren intellektuellen Leistungsfähigkeiten begrenzt sind, zum Beispiel später an einer Lese-Rechtschreib-Schwäche leiden. „Solche Spätfolgen lassen sich nicht immer ausschließen, können jedoch über kognitive Anregungen und intensive Betreuung vermindert werden“, meint Rossi. Doch das hängt vom Individuum, seiner Erziehung und seiner Umgebung ab. Frühgeborene benötigen noch mehr elterliche Fürsorge als andere Kinder. Eltern sollten sich auch Hilfe holen, wenn sie die Belastung nicht aushalten. Sylvia Körner hat eine Traumatherapie absolviert und so gelernt, besser mit ihren mütterlichen Ängsten umzugehen.

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