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Gesundheit: Generationenkonflikt beim Waldmenschen

Orang-Utans tarnen sich als Berufsjugendliche, um eifersüchtigen Patriarchen zu entgehen

Als „Ourang Outan“, Mensch des Waldes, haben die ersten Forschungsreisenden die rothaarigen Menschenaffen Asiens einst bezeichnet. Orang-Utans sind eingefleischte Einzelgänger. Anders als ihre afrikanischen Verwandten – die in Familienclans und Gruppen wechselnder Zusammensetzung lebenden Schimpansen und Gorillas – durchstreift Pongo pygmaeus seine Urwald-Heimat meist allein. Doch ungesellig heißt bei den Waldmenschen Asiens keineswegs asozial. Ihr Gemeinschaftsleben läuft vielmehr in einer Art Zeitlupe ab. Zwar sind die erwachsenen Männchen in einem riesigen Streifgebiet allein unterwegs. Ihren Revieranspruch signalisieren sie durch strengen Moschusgeruch und durch kilometerweit hallende Rufe. Doch das von ihnen verteidigte Territorium schließt mehrere kleinere Streifgebiete von Weibchen ein, die dort mit einem Jungen umherziehen.

Auswachsene, territoriale Orang-Männchen geben eine eindrucksvolle Erscheinung ab. Knapp doppelt so groß und schwer wie die Weibchen, haben sie zudem ein viel längeres orangerotes Haarkleid. Dank breiter Backenwülste und einem Kehlsack wirkt auch ihr Gesicht riesig. Allerdings sehen nicht alle Männchen so aus. Gerade erst geschlechtsreife Orang-Männchen im Alter von sieben bis neun Jahren wiegen kaum mehr als erwachsene Weibchen und unterscheiden sich auch äußerlich wenig von ihnen. Erst im Alter von 12 bis 15 Jahren bilden sich ihre sekundären Geschlechtsmerkmale heraus; dann werden sie auch von Weibchen als Paarungspartner ernst genommen.

Bei in Gefangenschaft gehaltenen Orangs war Forschern und Zoowärtern aufgefallen, dass sich die heranwachsenden Männchen jahrelang kaum weiterentwickeln. Dieses verzögerte Heranreifen beobachtete die kanadische Orang-Forscherin Biruté Galdikas dann auch auf Borneo, wo wild lebende, halbwüchsige Orang-Utan-Männchen manchmal zehn Jahre oder länger körperlich im Stadium von Jugendlichen verharren, wenn ein erwachsenes Männchen im Territorium herumstreift. Denn bereits beim ersten Anzeichen sich entwickelnder sekundärer Geschlechtsmerkmale beim Nachwuchs fühlen sich die erwachsenen Männchen durch die aufkeimende Konkurrenz herausgefordert und verweisen die Halbstarken in ihre Schranken – die fortan ihr Dasein als scheinbar Jugendliche fristen.

Erzwungener Jugendwahn

Beim Orang hat dieser erzwungene Jugendwahn Methode. Doch nicht durch dominante Männchen hervorgerufener Stress ist dafür verantwortlich; vielmehr ist es der reine Bluff, wie amerikanische Forscher jetzt herausfanden. Dazu mussten sie den Orangs in ihrem Beobachtungsgebieten regelmäßig zu ihren Schlafplätzen folgen, um unter den Nestern mit Plastikplanen Urinproben aufzufangen. Durch die auch im Harn enthaltene Konzentration verschiedener Hormone erhielten sie intimen Einblick in die Fortpflanzungsgewohnheiten der Tiere. Entstanden ist ein völlig neues Bild vom Sex beim asiatischen Menschenaffen. Demnach täuschen die jugendlich-kindlich aussehenden Männchen körperliche Unreife nur vor, obgleich sie in hormoneller Hinsicht erwachsen sind, es bereits auf Weibchen abgesehen haben – und diese in vielen Fällen auch sehr wohl schwängern.

Während sich die derart „getarnten“ Halbwüchsigen den Weibchen in eindeutiger Absicht nähern, bleiben sie von den Revierbesitzern unbehelligt. Weil ihre wenig imposante Erscheinung sie kaum verdächtig macht, nimmt der Revier-Mann sie als Widersacher nicht wirklich ernst, obgleich ihr Hormonspiegel sie nur als unreif wirkende Männchen überführt. Beim Testosteron und einem follikelstimulierenden Hormon etwa, das die Spermienreifung steuert, erreichen auch sie Werte, die auf aktive Geschlechtsorgane hindeuten.

Fazit der Forscher: Beim Orang-Utan machen die heranwachsenden Männchen lange auf kindlich-naiv, damit sie vom territorialen Männchen nicht bekämpft und vertrieben werden. Derart getarnt und geduldet, versuchen sie als sexuell aktive Halbstarke schon mal ungehindert ihr Glück bei den Weibchen. Da sie ebenfalls einen Gutteil der Kinder zeugen, sehen Biologen in ihrem trickreich anmutenden Verhalten eine in der Evolution durchaus angepasste und stabile Strategie. Vaterschaftstests zufolge stammt ein erheblicher Teil des Nachwuchses von rangtiefen Männchen. In einem Studiengebiet auf Sumatra hat immerhin jedes zweite dort geborene Orang-Baby einen solchen unauffällig-jugendlichen Vater.

Allerdings hat diese Sex-Strategie ihren Preis. Da sich die Weibchen nicht freiwillig mit den halbstarken Orangs paaren, greifen diese oft genug zu Gewalt. Offenbar haben Orang-Utans mehrere Wege gefunden, ihre Fortpflanzungschancen zu erhöhen. Um Zugang zu den Weibchen zu bekommen, müssen sie sich entweder gegenüber anderen erwachsenen Männchen durchsetzen und ein eigenes Territorium erobern und behaupten. Für heranwachsende Männchen ist es unter diesen Umständen von Nachteil, als Kraftprotz mit allen Anzeichen sexueller Potenz aufzutreten. Mithin müssen sie gleichsam durch die Hintertür zu Paarungen kommen.

Beliebt machen sich die Halbstarken unter den Orang-Müttern damit freilich nicht. Die Weibchen sind nämlich in erster Linie an Paarungen mit ausgewachsenen Männchen interessiert. Die Jung-Männchen müssen sich Kopulationen daher nicht nur erstehlen, sondern sogar erzwingen.

Von Halbstarken vergewaltigt

„Das sind regelrechte Vergewaltigungen, denn die Weibchen wehren sich meistens heftig“, stellt die amerikanische Affenforscher Anne Nacey Maggioncalda und Robert Sapolsky fest. „Sie versuchen zu beißen und stoßen laute Grunzlaute aus, die man sonst nie bei ihnen hört“. Von 151 dokumentierten Paarungen bei wachstumsgehemmten jungen Männchen waren 144 erzwungen, ein Anteil von 95 Prozent. Bislang sind Orang-Utans die einzigen Primaten, die regelmäßig auf diese unschöne Weise Nachkommen zeugen.

Doch Orangs sind keine Menschen, weshalb sich jede Gleichsetzung und damit auch jeder Moralisierungsversuch verbietet. Evolutionsbiologen sehen die Sexualpraktiken eher nüchtern. Menschenaffen sind offenbar Meister darin, je nach den Lebensbedingungen verschiedene Fortpflanzungsstrategien zu verwirklichen. Beim Orang heißt das, als Jung-Männchen zu Plan B überzugehen, um das Beste daraus zu machen. Bis man den Revierbesitzer beerben und damit auch seine Rolle als „offizieller“ Erzeuger des Orang-Nachwuchses einnehmen können.

Matthias Glaubrecht

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