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Gesundheit: Genforschung: Zurück zu den Müttern

"Helena lebte vor 20 000 Jahren, als die letzte Eiszeit auf ihren Höhepunkt zusteuerte. Ganz Skandinavien war mit Gletschern und ganzjährigen Eisfeldern bedeckt, die sich weit nach Süden erstreckten: etwa bis zu den heutigen Städten Berlin und Warschau.

"Helena lebte vor 20 000 Jahren, als die letzte Eiszeit auf ihren Höhepunkt zusteuerte. Ganz Skandinavien war mit Gletschern und ganzjährigen Eisfeldern bedeckt, die sich weit nach Süden erstreckten: etwa bis zu den heutigen Städten Berlin und Warschau." So beginnt der Genetiker Bryan Sykes von der Universität Oxford seinen Lebensbericht über eine Steinzeitfrau. Helena gehörte zu einer Schar von Nomaden, die sich mit Jagen und Sammeln im harten Klima Südeuropas über Wasser hielten.

Helenas Vater war ein geschickter Werkzeugmacher, der Jagdwaffen aus Feuerstein, Geweih und Knochen herstellte. Die Frauen nähten Kleider aus Fell. Sykes schildert, wie Helenas Gruppe am Rande einer Schlucht einem Rudel Rentiere auflauert. Es ist kurz vor Einbruch des Winters. Der Jagderfolg kann über Leben und Tod der Sippe entscheiden. Helenas Bruder wird durch einen Geweihhieb verletzt, stürzt ins Wasser und wird nur knapp von seinem Vater gerettet. Die Beute ist mager, der Winter wird hart. Aber Helena überlebt. Ihre Nachkommen sind bis heute unter uns. "47 Prozent aller Europäer gehören ihrem Clan an", schreibt Sykes.

Wissenschaft und Fiktion

Die Geschichte der Helena ist kein Fantasy-Märchen aus mythischer Vorzeit, sondern eine Mischung aus Wissenschaft und Fiktion. Zusammen mit sechs weiteren Frauen aus der Steinzeit gehört sie zu den "Urmüttern" Europas. Sykes hat ihre Spuren verfolgt und ihre Lebensgeschichten fantasievoll rekonstruiert. Mehr als 95 Prozent aller heutigen europäischen "Eingeborenen" stammt von diesen sieben Frauen ab, schreibt Sykes in seinem Buch "Die sieben Töchter Evas". "Diese sieben Frauen sind die weiblichen Vorfahren nahezu aller 650 Millionen heute lebender Europäer", schreibt Sykes.

Wie kommt jemand zu so einer kühnen Behauptung? Wer Sykes Idee verstehen will, muss sich vor Augen halten, dass der Mensch so etwas wie ein wandelndes Archiv ist. Es ist das Produkt einer Milliarden Jahre währenden Evolution. In jeder Körperzelle findet sich mit der Erbinformation nicht nur ein Ausweis unserer Einzigartigkeit, sondern auch unserer Entwicklung.

Beschrieben sind die Blätter dieser Chronik mit einer Art biochemischer Tinte, die nur die vier Buchstaben A, T, C und G kennt. Sykes, eigentlich ein Experte für vererbte Knochenleiden, erklärt in seinem Buch, wie er zum Fachmann für alte Erbsubstanz wurde. Ende der 80er Jahre begann er sich dafür zu interessieren, fossile Erbsubstanz aus alten Knochen zu lösen und zu analysieren.

Schlagzeilen machte er nach dem Fund der 5000 Jahre alten Gletscher-Mumie vor zehn Jahren in den Ötztaler Alpen, besser bekannt als "Ötzi". Sykes untersuchte die Erbsubstanz des Toten aus der Bronzezeit und stellte fest, dass sie mit der einiger heutiger Europäer übereinstimmte. Die Irin Marie Moseley, eine Bekannte von Sykes, erlangte für kurze Zeit Weltruhm, weil sie eine lebende Blutsverwandte von "Ötzi" ist.

Sykes benutzt die Gene als "molekulare Uhr". Veränderungen in der Abfolge der biochemischen Buchstaben, Mutationen genannt, vollziehen sich mit einer bestimmten Häufigkeit pro Zeit. Deshalb kann man aus dem Vergleich von Erbgutabschnitten zweier Menschen in etwa bestimmen, wie nahe sie verwandt sind, und wann sie einen gemeinsamen Vorfahren hatten.

In der Praxis stößt dieses Verfahren jedoch auf eine Reihe von Problemen. So mutiert die DNS im Zellkern nur sehr langsam. Die "molekulare Uhr" tickt zu träge - das ist so, als wollte man eine Uhr ohne Sekundenzeiger benutzen, um einen 100-Meter-Lauf zu messen. Viel schneller geht dagegen die "Mitochondrien-Uhr". Mitochondrien sind winzigkleine biologische Energiefabriken, die im Zellplasma herumschwimmen und über eigenes Erbgut verfügen.

In der Mitochondrien-DNS sind Sequenzveränderungen 20-mal so häufig wie in den Genen im Zellkern. Das macht die Mitochondrien zu einem nützlichen Instrument, um die menschliche Entwicklungsgeschichte zu verstehen. Und das umso mehr, weil wir sie ausschließlich von der Mutter vererbt bekommen. Mitochondrien weisen uns den Weg zu den Müttern. Zu den sieben Müttern, um genau zu sein.

Sykes hat vermutlich das perfekte Wissenschaftsbuch geschrieben. Anschaulich, packend, lehrreich, voller Geschichten - Sykes haucht den Genen Leben ein. Auch die Übersetzung von Andrea Kamphuis ist hervorragend, bis auf die verbreitete Unsitte, statt des deutschen "DNS" stets das englische "DNA" zu verwenden.

Ergreifend ist jene Szene am Schluss von "Die sieben Töchter Evas", in der der Wissenschaftler in seiner Vorstellung das Erbmolekül DNS zu einem langen Faden macht, der die Generationen verbindet - bis hin zur Clanmutter. "Ich ziehe an dem Faden, und in jeder Generation blickt eine Frau, die den Ruck spürt, zu mir hin ... Ich möchte jede unter ihnen über ihr Leben ausfragen, über ihre Sehnsüchte und Nöte, über ihre Freuden und ihren Schmerz ... Der Faden verwandelt sich in eine Nabelschnur."

Geborgen in den Genen

Die Vorstellung, wie stark wir mit unseren Ahnen verbunden sind, hat etwas ungemein Beruhigendes. Diese Erkenntnis macht gelassen. Wer in der Botschaft der Gene eine jahrtausendealte Entwicklung rekapituliert, der fühlt sich in diesem Wissen auch aufgehoben, ja geborgen.

In ein härteres und grelleres Licht tauchen die Gene in "Die Sequenz. Der Wettlauf um das menschliche Genom", geschrieben von dem Wissenschaftspublizisten Kevin Davies. Während der Forscher Sykes mit Leib und Seele dabei ist, sieht Davies die Arbeit der Wissenschaftler von außen, distanziert und nah zugleich. Davies war Redakteur des Magazins "Nature", bevor er 1992 "Nature Genetics" gründete - heute die führende Fachzeitschrift für Genetik.

Wer ein bisschen Vorkenntnisse mitbringt und sich über das Genom-Projekt informieren will, der ist bei Davies gut aufgehoben. Es gibt wohl in Deutschland niemanden, der so gut Bescheid weiß wie er. Davies schlägt einen Kreis, der weit über das eigentliche Genom-Projekt hinausgeht. Er beleuchtet fast alle wichtigen Gebiete der Molekulargenetik, zeichnet die wissenschaftliche Entwicklung nach und informiert ausführlich über medizinische und ethische Aspekte der Genforschung. Davies informiert objektiv und unaufgeregt und schreibt dabei sehr lebendig. Wenn es sein muss, findet er auch kritische Töne. Aber stets wahrt er die Fairness.

Einziger Wermutstropfen in dem ansonsten höchst informativen Buch sind einige Fehler und Ungenauigkeiten, die sich in die Übersetzung eingeschlichen haben. Da wird zum Beispiel der Genom-Pionier Eric Lander zum "Direktor des englischen Whitehead Institute" (das im amerikanischen Cambridge liegt). Oder die Taufliege Drosophila heißt "Fruchtfliege" (weil sie auf englisch "fruitfly" heißt?); der US-Medizin-Nobelpreisträger Eric Wieschaus wird kurzerhand zu einem Deutschen ernannt, und das menschliche Genom hat plötzlich neun statt drei Milliarden Buchstaben.

Es ist schade, dass es diese Bücher wohl nicht in die deutschen Bestsellerlisten schaffen werden. Und das, obwohl wir mit Hilfe der Genforschung viel über uns selbst erfahren können.

Just die Frage: "Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?" versuchen auch die Autoren eines Sammelbands zu beantworten, den der Philosoph Ludger Honnefelder und der Humangenetiker Peter Propping herausgegeben haben. Wissenschaftler, Ethiker, Juristen und Philosophen kommen hier zu Wort, jeder auf ein paar Seiten, jeder für sich. So ergibt sich kein Gesamtbild, sondern nur eine Anhäufung von Mosaiksteinen - interessant, wenn man das eine oder andere nachschlagen will, aber als Einführung in das Thema eher ungeeignet.

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