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Gesundheit: Genialer Grenzverkehr

Die Jagd auf den Urahn allen Lebens hält Biologen heftig auf Trab. Unter Fossilien lässt er sich allerdings nicht aufstöbern, da die ältesten Funde – rund 3,5 Milliarden Jahre alte Bläschen in australischen Gesteinen – nur wenig Schlüsse erlauben.

Die Jagd auf den Urahn allen Lebens hält Biologen heftig auf Trab. Unter Fossilien lässt er sich allerdings nicht aufstöbern, da die ältesten Funde – rund 3,5 Milliarden Jahre alte Bläschen in australischen Gesteinen – nur wenig Schlüsse erlauben. Die Suche findet vielmehr unter den Lebenden statt. Genarchäologen tasten sich am Erbgut primitiver Einzeller mit Sequenziermaschinen immer weiter in die Vergangenheit der Organismen zurück. Dort angekommen entdecken sie überraschende Szenarien, die alte Vorstellungen von der Evolution auf den Kopf stellen: In der Ursuppe planschte wohl keine Urzelle – am Anfang könnte eine Mikrobenkolonie gestanden haben.

Dies behauptet jedenfalls der Mikrobiologe Carl Woese (Universität von Illinois) – eine These, die seit einiger Zeit die Fachkreise in Aufregung versetzt. Seine Theorie erläuterte der Wissenschaftler kürzlich im Journal der amerikanischen Nationalen Akademie der Wissenschaften (PNAS).

Woese ist kein Irgendwer. Der Wissenschaftler hatte sich bereits Ende der 70er Jahre einen n gemacht. Damals wies er in Genanalysen nach, dass sich der Stammbaum irdischen Lebens nicht nur in die Domänen der Bakterien und der Organismen mit Zellkern, darunter alle Tiere und Pflanzen, auffächert. Der Biologe entdeckte ein drittes Urreich, nämlich das der Archäen, die sich vorrangig an Orten extremer Hitze aufhalten.

Lange hatten Mikrobiologen gehofft, aus den Genen den Vorfahren der ungleichen Geschwister zurückzukreuzen. Doch der Versuch, die lebenswichtigsten Gene aller Gruppen auf einen Altvordern zu vereinen, erwies sich als unmöglich. „Eine solche Zelle wäre zu groß und zu kompliziert, als dass es sie tatsächlich hätte geben können“, bemerkt Woese.

Während sich die Urzelle allmählich als moderne Legende entlarvt, versuchen einige Wissenschaftler, den untersten Stammbaum des Lebens zumindest anhand der Vererbungsgeschichte von individuellen Genen zu finden. Allerdings haben die Forscher damit auf den ersten Blick mehr Verwirrung als Klarheit gestiftet. Verschiedene DNS-Abschnitte, die sich heute in einem Organismus versammeln, sind während der Evolution offenbar von Art zu Art marschiert.

Statt zu einem Ursprung etwa in Gestalt eines Stammes zu finden, liefern die Genspuren nur das Bild eines zerzausten Wurzelwerks: Eine DNS-Sequenz führt ins Reich der Bakterien, eine zweite zu den Archäen, eine dritte endet im Niemandsland – niemand weiß bislang, woher das Zytoskelett stammt, das innere Kanalsystem aller Tier- und Pflanzenzellen. Da mutiert die Evolution allen Lebens zum Netzwerk, das viele Anfänge und reichlich Querverbindungen kennt.

Die ersten Gene, so mutmaßt Woese, könnten heutigen Plasmiden geähnelt haben. Darunter versteht man vom Genom unabhängiges, in der Zelle frei schwebendes Erbmaterial. Plasmide finden sich in Bakterien und werden mitunter in die Chromosomen eingebaut. Solche DNS-Bündel könnten kinderleicht über die Zellgrenzen gezogen sein. Das ersparte den niederen Kreaturen, bis zum Sankt Nimmerleinstag darauf zu warten, dass sich ihr privates Genset zufällig passend zur Umwelt verändere. Stattdessen stand ihnen das Erbgutreservoir all ihrer Nachbarn zur Verfügung.

Dieser Prozess hielt also womöglich das Evolutionsgetriebe am Anfang in Gang. Nachdem ein neues Gen einverleibt war, konnten sich die Mikroben besser auf feindlichem Feld behaupten und sich rasch vermehren. Die Bedeutung dieses Genaustauschs lässt sich laut Woese kaum überschätzen: „Der horizontale Gentransfer ist die eigentliche Quelle evolutionären Fortschritts“, sagt er. „Ihm verdanken wir neue Proteine, Membranstoffe, Energieressourcen und vieles mehr.“

Diese Art Grenzverkehr der Gene fand in Woeses Augen erst ein Ende, als sich das komplizierte Räderwerk einzelner Zellen weitgehend stablisiert hatte. Jetzt wäre es nicht mehr ohne größeren Schaden möglich gewesen, sich des Nachbarn Erbgut über Grenzen von Genen und Domänen hinweg einzuverleiben. Nun schlug die Stunde der vertikalen Vererbung, die seitdem die Evolution antreibt. So löste der Konkurrenzkampf der modernen Organismen den Kommunismus der Urmikroben ab.H.B.

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