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Gesundheit: „Gesamtschulen würden nichts verbessern“

Wilfried Bos, der Leiter der Iglu-Studie, verteidigt sich gegen Kritik an seinen Methoden – und warnt vor voreiligen Schlüssen

Herr Bos, nach der Veröffentlichung der IgluStudie über die Leistungen von Viertklässlern gibt es Zweifel an der Vergleichbarkeit der Ergebnisse mit Pisa. Von 20 Ländern, die bei Pisa vor Deutschland lagen, seien bei Iglu zehn nicht mehr dabei, darunter Spitzenreiter wie Finnland oder Korea. Statt dessen seien schwächere Länder dazu gekommen. Zeichnet die Iglu-Studie vielleicht ein allzu gutes Bild von Deutschland?

Überhaupt nicht. Wir haben Ländergruppen gebildet, die für Deutschland relevante Vergleichsmaßstäbe sein können, nämlich die teilnehmenden EU- und OECD-Länder. Die schwächsten acht sind ausgeklammert. Diese Gruppen lassen sich mit Pisa vergleichen, besonders, weil es dabei nicht um einzelne Rangplätze geht. Wichtig ist, dass Deutschland bei Iglu im oberen Mittelfeld ist und dass nur drei Länder signifikant besser abgeschnitten haben als wir.

Waren die deutschen Viertklässler vielleicht im Vorteil, da sie im Schnitt älter sind?

Nein, auch das haben wir kontrolliert. Das Alter der deutschen Schüler hat keinen nennenswerten Effekt auf die Ergebnisse.

In wie weit kann das gute Abschneiden der Grundschüler auch die Situation in Großstädten mit ihren sozialen Problemen spiegeln?

Großstädte schneiden auch bei Pisa schlechter ab. Bei Iglu ist der Unterschied zwischen Land und Stadt nicht ganz so groß. Mehr über regionale Unterschiede wissen wir im Herbst nach der Auswertung der Ergebnisse in den Bundesländern. Da ist Berlin aber nicht dabei, weil die Stichprobe zu klein war. Allerdings werden die Leistungen der Berliner und Hamburger Grundschüler in einer Studie der Humboldt-Universität und der Uni Hamburg untersucht. Dann wird Berlin mit den Iglu-Bundesländern vergleichbar. Diese Ergebnisse liegen nächstes Jahr vor.

Die Studie hat auch große Mängel aufgedeckt. 30 Prozent der Schüler droht Misserfolg. Versagt die Grundschule doch?

Nein. Allerdings gibt es einiges zu verbessern: bei den schwachen Schülern, bei denen mit Migrationshintergrund und bei der Förderung der Leistungsstärksten. Fest steht, dass die Schüler in Zukunft auch noch in der Sekundarstufe im Lesen gefördert werden müssen. Das war vorher nicht bekannt.

Der Erfolg der deutschen Grundschüler ist wohl ihren Lehrerinnen zu verdanken, die besser mit heterogenen Gruppen umgehen als Lehrer der Oberschule. Allerdings zeigt die Studie auch, dass die deutschen Grundschullehrer anders als die im Ausland kaum spezielle Aufgaben für schwache und starke Schüler in den Unterricht mitbringen. Ein Widerspruch?

Im Ausland wird der differenzierte Unterricht nur noch besser gemacht als in Deutschland. Bei uns besteht die Differenzierung meist darin, den schwachen Schülern mehr Zeit für die Lösung einer Aufgabe zu geben. Das ist zwar einseitig, aber trotzdem schon eine große Leistung – denn wo gibt es das in der Sekundarstufe?

Ist die Einheitsschule der wichtigste Schritt zur Lösung der Probleme in der Oberstufe, wie viele Gewerkschafter meinen?

Die Studie hat zu vielen Spekulationen und voreiligen Schlüssen geführt. Die einen wollen nun flächendeckend Gesamtschulen einführen, für andere begänne damit der Untergang des Abendlandes. Wenn wir jetzt flächendeckend Gesamtschulen bei gleichem Unterricht einführen würden, würde sich nichts verbessern. In manchen Bundesländern wird sinnvoll mit der dreigliedrigen Tradition umgegangen, wie in Baden- Württemberg, das gut bei Pisa abgeschnitten hat.

Die Bildungsministerin hat aus Iglu den Schluss gezogen, dass die Schüler zu früh auf die Schultypen aufgeteilt werden.

Auch die sechsjährige Grundschule führt nicht automatisch zu Verbesserungen, das sieht man ja am mäßigen Brandenburger Pisa-Ergebnis. Mit welchen Argumenten will man da die besseren Bayern zur sechsjährigen Grundschule bewegen? Die Schulstruktur allein ist nicht ausschlaggebend. Es ist wie in der Religion. Ob nun katholisch oder evangelisch – beides führt vermutlich zum Herrn, wenn man es gut macht.

Wie würde man denn gut mit dem dreigliedrigen System umgehen?

Die Aufteilung der Schüler auf die Schulformen müsste optimiert werden. Ein erheblicher Anteil der Kinder könnte nach ihren Kompetenzen genau so gut eine Empfehlung für eine andere Schulform bekommen, wie Iglu zeigt. Wenn solche Fehleinschätzungen möglich sind, müssen wir dafür sorgen, dass das dreigliedrige System radikal nach oben durchlässig wird, um diese Fehler später korrigieren zu können. In Baden-Württemberg scheint das gut zu funktionieren. Dort können Realschüler leicht aufs berufliche Gymnasium wechseln.

Kann man aus den zwei mal zwei Stunden, die die Grundschüler bei Iglu getestet wurden, wirklich schließen, dass die Lehrer mit ihren Schulempfehlungen so falsch liegen? Immerhin kennen die Lehrer ihre Schüler doch am besten.

Wir haben die gleichen großen Überlappungen bei der Benotung festgestellt: Für gleiche Leistungen bekommen die Schüler unterschiedlichste Zensuren.

Woran liegt das?

Es gibt für das, was eine gute oder eine mangelhafte Leseleistung ausmacht, noch keine definierten Standards in Deutschland. So legt jeder Lehrer für seine Klasse fest, was gut ist. Dem Lehrer fehlen Vergleichsmaßstäbe. Also kann es passieren, dass bei gleichem Notendurchschnitt die schwächste Steglitzer Klasse besser liest als die beste Klasse aus Neukölln.

Was ist dann das Erfolgsrezept der deutschen Lehrer gewesen?

Das wissen wir nicht genau. Wir haben bei Iglu keine Auswertung von Unterrichtsvideos gemacht wie bei der Mathematikuntersuchung Timss, weil das leider nicht finanziert wurde. Das ist sehr ärgerlich, weil ja absehbar war, dass man nach der Studie Fragen zum Unterricht stellen würde. Die Informationen zum Unterricht, die wir erfragt haben, müssen noch ausgewertet werden.

In England sind die Klassen größer als in Deutschland, trotzdem lesen die englischen Schüler besser. Spielt die Klassengröße also keine große Rolle für das Lernen?

Es scheint so zu sein, dass nicht so viel von der Klassengröße abhängt wie allgemein angenommen wird.

Schulleiter sehen das größte Hemmnis beim Leseunterricht in fehlenden Computern.

Die Rolle des Computers wird überschätzt. Das ist die alte Leier: Computer rein – und dann werden alles besser. Man kann auch mit einem Buch lesen lernen.

Das Gespräch führte Anja Kühne.

Die Studie ist im Waxmann Verlag (Münster, New York) erschienen: Bos u. a. (Hrsg.) Erste Ergebnisse aus Iglu, 320 S., 19,90 Euro.

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