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Gesichtsblindheit: Wenn die Kollegin zwei Mal grüßt

Manche Menschen können keine Gesichter erkennen. Die wenigsten wissen, dass ihre Krankheit einen Namen hat: Prosopagnosie

Der Vorfall ist ihr bis heute peinlich. Durch Zufall kam Silvana Bach (Name geändert) tagsüber an der Schule ihres Sohnes vorbei. Die 37-Jährige wollte ihm Hallo sagen. Sie ging im Hof auf das Kind mit der grünen Jacke und den braunen Haaren zu, wollte es in den Arm nehmen. Der Junge guckte irritiert. Er war nicht ihr Sohn. Er trug nur die gleiche Jacke und hatte die gleiche Haarfarbe.

Das ist ihr nicht zum ersten Mal passiert. Manchmal läuft die gebürtige Spandauerin wortlos an Bekannten vorbei. Oder grüßt im Büro Kollegen mehrfach, weil sie sich nicht erinnern kann, ihnen bereits begegnet zu sein. Außenstehende halten sie dann für arrogant oder verträumt. Dabei leidet sie an einer angeborenen Krankheit, über die nur wenig bekannt ist: Prosopagnosie, umgangssprachlich Gesichtsblindheit genannt. Schätzungsweise zweieinhalb Prozent der Bevölkerung sind betroffen. Sie sind nicht in der Lage, ihnen bekannte Menschen anhand ihrer Gesichter zu identifizieren. Sie nehmen zwar Augen, Nase und Mund wahr, sind aber offenbar nicht in der Lage, deren Form und individuelle Anordnung zu verwenden, um ihr Gegenüber zu erkennen. Häufig betrifft das selbst nahe Verwandte und Angehörige und sogar ihr eigenes Spiegelbild.

Neurologe Andreas Lüschow leitet am Charité-Klinikum Benjamin Franklin eine Spezialsprechstunde für Patienten mit kognitiven Störungen und Demenzen und untersucht die Ursachen von Prosopagnosie. In Kooperation mit der Universität Bamberg und weiteren Forschern hat er eine Studie durchgeführt. Das Hirn nimmt Gesichter in einem winzigen Areal im Schläfenlappen hinter den Ohren wahr. Bei der Spracherkennung dominiert meist die linke Hirnhälfte, bei der Gesichterwahrnehmung die rechte. Das Forscherteam untersuchte mit einem Magnetoenzephalografen die Nervenzellaktivitäten von 14 Betroffenen in diesem Hirnareal, denen Fotos von Gesichtern gezeigt wurden. Die gemessene Aktivität unterschieden sich deutlich von denen bei Nichtbetroffenen. Bei der Wahrnehmung von Objekten, etwa Häusern, zeigten sich dagegen keine Unterschiede. Das spricht für ein selektives Defizit der Gesichtererkennung bei Personen mit angeborener Prosopagnosie. Die Forscher gehen davon aus, dass ein für die Gesichtserkennung zuständiges Modul bei Personen mit angeborener Prosopagnosie nicht seine normale Leistung erbringt. Wo genau der Fehler liegt, ist bisher unklar.

Dass mit ihnen etwas nicht stimmt, bemerken Prosopagnostiker meist jahrzehntelang nicht. Sie kompensieren das Defizit. Menschen erkennen sie an Statur oder Stimme, am Gang, an Mimik oder Gestik. Viele bekommen bereits als Kind Ärger mit den Eltern, weil sie Nachbarn nicht grüßen. Das war bei Silvana Bach nie ein Problem, dennoch hatte sie immer Schwierigkeiten im Umgang mit Menschen. Der Leidensdruck fing im Abitur an. Die Sicherheit des Klassenverbandes brach weg. Sie saß plötzlich mit Schülern aus den Parallelklassen zusammen, in neuen Räumen. An der Uni wurde es schlimmer. Sie fehlte in Vorlesungen, litt an Migräne oder anderen psychosomatischen Begleiterscheinungen. Als sie anfing, als Sachbearbeiterin zu arbeiten, eskalierte die Situation. „Ich hatte den Eindruck, ich sei zu gar nichts mehr imstande“, erzählt sie.

Lange Zeit glaubten Mediziner, Silvana Bach leide an Depressionen oder sei mit ihrer Situation als alleinerziehende Mutter überfordert. Aber mit ihrem Sohn hatte sie nie Probleme. Sie war in psychotherapeutischer und psychiatrischer Behandlung, ihr wurden Medikamente mit schweren Nebenwirkungen verschrieben, die ihr Leiden doch nicht verbesserten. Sie war kurz davor, sich in stationäre Behandlung zu begeben, weil sie glaubte, schizophren zu sein.

Erst ein Neurologe der Charité äußerte den Verdacht, sie könne an Prosopagnosie leiden. Er überwies sie an Andreas Lüschow, der die Diagnose bestätigte. Ein Moment der Erleichterung: „Zum ersten Mal bekam das Kind einen Namen“, sagt Bach. Rückblickend ist ihr vieles klar geworden. Warum sie Filme immer auf Video aufgenommen und hin- und hergespult hat. Und dass sie sich mit auffälligen Menschen umgab: Ihre beste Freundin war das größte Mädchen der Schule.

Heilbar ist Prosopagnosie nicht. „Man kann den Betroffenen aber durch Aufklärung und Verhaltenstherapie helfen“, sagt Andreas Lüschow. Er will an der Charité eine Spezialambulanz aufbauen und ein Screening entwickeln: Ein einfacher Gesichtserkennungstest für Vorschulkinder, so wie man sie auf Rot-Grün-Blindheit untersucht. Das könnte ihnen ein jahrzentelanges Leiden ersparen oder zumindest lindern.

Kontakt zur Spezialsprechstunde von Andreas Lüschow: Tel. 84 45 22 55

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