zum Hauptinhalt

Hirnforschung: Lesen im Gehirn

Röntgenkongress in Berlin: Radiologen fahnden nach Veränderungen im Kopf von Legasthenikern.

Manche Kinder tun sich mit dem Lesenlernen und der Rechtschreibung schwerer als ihre Altersgenossen, obwohl sie genauso intelligent sind und sich mindestens so viel Mühe geben wie die anderen.

Inzwischen setzt sich die Erkenntnis durch, dass diese frustrierende Störung neurobiologische Grundlagen hat. Dazu hat zuletzt beigetragen, dass einige Gene identifiziert wurden, die bei Betroffenen verändert waren.

Legasthenie ist längst als Krankheitsbild anerkannt, von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt es eine Leitlinie, in der das fachlich fundierte Vorgehen in Diagnostik und Therapie beschrieben wird. Der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie, in dem sich die Eltern betroffener Kinder zusammengetan haben, geht davon aus, dass vier von 100 Schülern eine Lese-Rechtschreib-Schwäche haben. Der Verband kritisiert aber auch seit Jahren, dass es mit der Anerkennung der Störung und der adäquaten Förderung in den Schulen nach wie vor hapert.

Möglicherweise kann die moderne Bildgebung helfen, das zu ändern. Auf dem Deutschen Röntgenkongress, der in der vergangenen Woche in Berlin stattfand, wurde eine Studie vorgestellt, für die Kinderradiologen der Universität Jena 28 Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwäche und 21 Altersgenossen ohne diese Probleme mit einer besonderen Form der Magnetresonanztomographie (MRT) untersucht haben. Bei dem Verfahren namens Diffusion Tensor Imaging (DTI) wird die Beweglichkeit von Wassermolekülen im Gewebe gemessen. Errechnet werden ein Koeffizient für die Diffusion der Wassermoleküle und ein Faktor, der über ihre Ausrichtung Auskunft gibt. Das sind Anhaltspunkte für die Feinanatomie des Gehirns und geben Aufschluss darüber, wie die Nervenbahnen verlaufen, die verschiedene Hirnregionen verbinden und von der Hirnrinde aus in alle Bereiche des Körpers verlaufen. Die Methode wird heute schon zur Diagnose neurologischer Erkrankungen von Schlaganfall bis Multiple Sklerose eingesetzt. Nun konnten die Jenaer Mediziner um Hans-Joachim Mentzel, Oberarzt des Instituts für Diagnostische und Interventionelle Radiologie, zeigen, dass verschiedene Hirnstrukturen der Legasthenie-Kinder von denen anderer Kinder abwichen.

Dass sich die Bilder nicht gleichen, ist keine ganz überraschende Erkenntnis. Aus Ableitungen von Hirnströmen im Elektroenzephalogramm weiß man, dass die zuständigen Areale bei Menschen mit Legasthenie andere Aktivierungsmuster zeigen. Strukturuntersuchungen ergaben zudem schon früher, dass der Balken, der beide Hirnhälften verbindet, bei ihnen weniger Volumen aufweisen kann. Mit einer anderen Art von MRT – der funktionellen MRT – wurde dem Gehirn von Kindern und Erwachsenen mit Lese-Rechtschreibschwäche außerdem schon bei der Arbeit zugeschaut. Es zeigte sich, dass die Betroffenen beim Lesen andere Muster der Beanspruchung von Gehirnarealen zeigen als Kontrollpersonen, die sich mit dem Lesen leichter taten.

Während der Untersuchung an der Uni Jena, die die Radiologen in Zusammenarbeit mit den Kinder- und Jugendpsychiatern realisierten, sollten die Kinder allerdings nicht lesen oder schreiben. Die Forscher interessierten sich vielmehr für das Bild, das die Gehirne der Acht- bis 14-Jährigen im Ruhezustand abgaben. Zum Teil zeigten sich dort Werte, die auf eine höhere Beanspruchung der jeweiligen Region hinweisen, etwa in der „Corona radiata“, einem bestimmten Nervenbündel unterhalb der Hirnrinde. „Das lässt zumindest die Deutung zu, dass die Anstrengung beim Lesenlernen im Gehirn der Kinder mit Legasthenie Spuren hinterlassen hat“, sagt Mentzel. Er mahnt jedoch zur Vorsicht bei der Deutung der Befunde – die demnächst mit einem Gerät überprüft werden sollen, das dünnere Schichten abbildet und genauere Aussagen erlaubt.

Die im Schnitt elf Jahre alten Kinder, deren Gehirne in Jena „gescannt“ wurden, hatten zuvor die Diagnose Legasthenie aufgrund der gängigen Kriterien bekommen. Sie waren aber noch nicht in spezielle Übungsprogramme aufgenommen. Nun interessieren sich die Kinderpsychiater dafür, welche Veränderungen sich in der Funktion und in der Struktur des Gehirns während und nach einer gezielten „Beübung“ zeigen werden. Wird es eher eine Angleichung der Strukturen oder ein weiteres Auseinanderdriften geben? Längsschnittuntersuchungen könnten helfen, wirksame von weniger wirkungsvollen Übungsprogrammen zu unterscheiden. „Es wäre schön, wenn man unsere Bilder nutzen könnte, um herauszufinden, welche Therapie beim einzelnen Kind die höchsten Erfolgschancen hat“, sagte Kinderradiologe Mentzel. Er hält es auch für möglich, dass die Bildgebung künftig als einer von mehreren Bausteinen bei der exakten Diagnosestellung verwendet werden könnte.

Allerdings sind die Forscher heute von Referenzwerten, die „Gesunde“ sicher von Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche unterscheiden, noch weit entfernt. Die Vorstellung, dass eine MRT des Kopfes für alle Vorschulkinder bald genauso zu den Routine-Vorsorgeuntersuchungen gehören könnte wie das Messen und Wiegen, hält der Radiologe für abwegig. Und das nicht nur, weil die Bilder, für sich genommen, wenig Aussagekraft hätten. „Die ganz Kleinen würden sowieso nicht mitspielen, wenn man sie bittet, ein paar Minuten in einer solchen Röhre auszuhalten“.

Adelheid Müller-Lissner

Zur Startseite