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Gesundheit: Hitlers erster Griff zur Macht

Der Münchner Putsch am 8./9. November 1923 war, wie erstmals eingesehene Dokumente zeigen, eine ernsthafte Gefahr für die Weimarer Republik

Vor 80 Jahren unternahm es der Führer der braunen Bataillone, sich an die Spitze der von anderen vorbereiteten „nationalen Revolution“ zu stellen. Vielfach hat die theatralische Durchführung seines Handstreichs überdeckt, dass die Weimarer Republik durch diesen Vorstoß der vereinten national-konservativen und völkischen Kräfte tödlich bedroht war – wie der Autor, gestützt auf neu erschlossene Archivalien, nachweist.

Für den Abend des 8. November hatte der starke Mann Bayerns, der Generalstaatskommissar Gustav Ritter von Kahr, eine programmatische Rede vor den Notabeln Münchens im honorigen Bürgersaal angekündigt. Es sollte nicht dazu kommen: Wenige Minuten nach Beginn seiner Ansprache stürmte Hitler im langen schwarzen Gehrock, das Eiserne Kreuz Erster Klasse an der Brust – schon ganz künftiger Staatsmann – an der Spitze eines schwer bewaffneten Trupps Hakenkreuzler in den Saal, feuerte, um sich Gehör zu verschaffen, einen Schuss unter die Decke und verkündete den Ausbruch der nationalen Revolution.

In barschen Worten bat er Kahr, den Reichswehrgeneral Lossow und den Polizeioberst Seißer in Begleitung Bewaffneter ins Nebenzimmer, wo er den Überrumpelten eröffnete, wie er sich die personelle Zusammensetzung der nationalen Diktatur vorstellte. Für sich reklamierte er die politische Führerschaft, während General Ludendorff als Nationalfeldherr den Marsch auf Berlin befehligen sollte. General Lossow war das Amt des Reichswehrministers, Oberst Seißer das des Reichspolizeiministers und Kahr die Funktion eines Reichsverwesers für Bayern zugedacht. Eine Dreiviertelstunde lang weigerte sich das Triumvirat, auf Hitlers Ansinnen einzugehen; erst die Ankunft General Ludendorffs, des angesehenen Feldherrn des Ersten Weltkriegs, rettete Hitler.

Aus diesem Vorgang ergeben sich zwei Fragen. Erstens: Was berechtigte Hitler zu der Annahme, dass sein Überraschungscoup gelingen würde? Und zweitens: Warum machten die drei mächtigsten Männer Bayerns zunächst gute Miene zum bösen Spiel und versprachen General Ludendorff Treue in die Hand, um wenige Stunden später die Unterdrückung des Hitlerputsches anzuordnen?

Seit Ende September 1923 steuerte Kahr einen spektakulären Kurs, der auf einen Bruch mit Berlin und die Wiederherstellung der Wittelsbacher Monarchie mit dem Kronprinzen Rupprecht an der Spitze hinauszulaufen schien. Im Laufe des Oktobers erhielt die weißblaue Losung „Los von Berlin“ unter dem Einfluss der schwarz-weiß-rot orientierten Vaterländischen Verbände den neuen Inhalt „Auf nach Berlin“. Der mächtigste und am besten organisierte Wehrverband war der unter Hitlers Führung vereinigte „Kampfbund“. Für die Förderung der rechtsradikalen Kräfte erhielt General Ludendorff von dem Großindustriellen Fritz Thyssen am 23. Oktober 100 000 Goldmark.

Am 24. Oktober kündigte General Lossow den versammelten Wehrbundführern und höheren bayerischen Offizieren den „Marsch auf Berlin und die Befreiung Deutschlands vom Marxismus“ an. Eine Woche sprach er sogar von der Notwendigkeit einer „Reichsdiktatur Lossow, Seißer, Hitler“ – Hitler war zu diesem Zeitpunkt also mit in die höchste Führungsebene einbezogen worden.

Eisenbahner erschießen

Das änderte sich jedoch, als Oberst Seißer am 2. November nach Berlin fuhr, um die Lage bei den norddeutschen Verschwörern zu sondieren. Die entscheidende Unterredung fand mit General Seeckt statt, der zu verstehen gab, er habe Verständnis für Kahrs Bemühungen, die Weimarer Republik zu bekämpfen, jedoch müsse unbedingt der legale Weg eingehalten werden. Unmittelbar nach dem Gespräch schrieb Seeckt einen längeren Brief an Kahr, den dieser am 5. November erhielt. Hierin forderte der Chef der Reichswehr, dass eine „Einheitsfront aller nationalen Gesinnten“ gebildet würde und eine Verfassungsänderung nicht von „unverantworlicher und unberufener Seite und mit Gewalt" erfolgen dürfe. Das richtete sich eindeutig gegen die unkalkulierbare völkische Revolution und gegen Hitler und Ludendorff. Das bayerische Triumvirat ordnete daraufhin die eigenen Pläne den Seecktschen unter, weil diesen eine nationale Dimension zukam. Sie orientierten die bayerischen Wehrbundführer und höheren Reichswehroffiziere auf einen bayerischen Staatsstreich unter der alleinigen Führung der Reichswehr.

Neue Details hierzu vermittelt ein vertraulicher Bericht eines Augen- und Ohrenzeugen an Reichswehrminister Otto Gessler, den dieser am Abend des 8. November, also unmittelbar vor der Rede Kahrs, erhielt. Ihm zufolge sollte die militärische Führung des Staatsstreichs General Lossow und die politische Verantwortung dafür Kahr übernehmen. Es war daran gedacht, diesen Staatsstreich mit Brachialgewalt durchzusetzen: So sollten die erforderlichen Eisenbahntransporte erzwungen werden, indem im Weigerungsfall jeder zehnte Mann erschossen werden sollte. General Lossow wollte sich Seeckt unterstellen, den er als „fähigsten militärischen Kopf und tadellosen Charakter“ bezeichnete. Ziel der Aktion sei die „nationale Diktatur“, wobei Kahr erklärte, „keinen Ehrgeiz zu haben, Diktator zu werden“. „Angesichts der großen Verbrüderung“ unterwarfen sich Hitler und Ludendorff, beide erkannten, dass die Reichswehr allein die Führung für sich beanspruchte.

Hitler geriet nun in eine Zwangslage; einerseits hatte er Seißer sein Ehrenwort gegeben, „nicht vorzuprellen“, andererseits erwarteten seine Anhänger von ihm die „nationale Tat“. Als Hasardeur setzte er alles auf eine Karte, mobilisierte seine auswärtigen Gefolgsleute und bereitete einen eigenen Umsturz vor, wohl wissend, dass er für dessen Erfolg die Machtmittel benötigte, über die nur das Triumvirat verfügte: den Staatsapparat, die Reichswehr und die Polizei. Da er in die Putschvorbereitungen mit einbezogen war und im Prinzip gleiche Ziele verfolgte wie die drei Herren, glaubte er, sie veranlassen zu können, seine Führerschaft zu akzeptieren. Gleichzeitig löste er sich mit seinem Coup aus der Mentorschaft Ludendorffs, indem er ihn auf das militärische Gebiet abdrängte, was dieser übel nahm.

Propagandareden aus dem Fenster

Die drei von Hitler Düpierten nahmen die auf offener Bühne gegebenen Zusagen an Hitler zurück, als sie von den bereits ohne ihr Zutun eingeleiteten Maßnahmen zur Niederschlagung des Hitlerputsches erfuhren. Hitlers verzweifeltes Unterfangen, mittels eines Propagandamarsches am Vormittag des 9. November durch München das Blatt noch zu wenden, scheiterte an den Schüssen der Landespolizei vor der Feldherrenhalle, denen 13 Nationalsozialisten und drei Polizisten zum Opfer fielen. Hitler schien für immer ein toter Mann zu sein.

Es ist ein Paradox der Geschichte: Ihn rettete das Gerichtsverfahren, das seinen Untergang juristisch besiegeln sollte. Ende Februar 1924 begann der Prozess gegen Hitler und weitere acht Angeklagte vor einem Münchner Gericht und nicht vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig, der für die Aburteilung hochverräterischer Unternehmen zuständig war. Hitler erhielt vor der internationalen Presse Gelegenheit, Propagandareden aus dem Fenster hinauszuhalten und aus der Niederlage einen Erfolg zu machen, indem er alle Verantwortung für „die Tat“ auf sich nahm und so die Führerlegende begründete. Während Ludendorff blindwütig um sich schlug, stilisierte sich Hitler vom Bayerischen Trommler zum nationalen Politiker.

Er wurde zwar zu fünf Jahren Festungshaft und 200 Reichsmark Geldstrafe verurteilt, aber nicht als „lästiger Ausländer“ abgeschoben. Aus dem Putsch zog er zwei Lehren: sich nie gegen die Reichswehr stellen und die Macht nur auf legalem Wege erreichen. Ein Rezept, das ihm im Januar 1933 die ersehnte Macht brachte, die er zehn Jahre zuvor vergeblich angestrebt hatte.

Der Autor ist emeritierter Historiker und hat zahlreiche Studien zur Geschichte der Weimarer Republik verfasst.

Erwin Könnemann

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