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Blockade im Mund. In Deutschland leiden rund 800 000 Menschen unter Stottern. Hilfreich kann ein Blick in die USA sein. Dort gilt: Wer vor Beginn einer Rede offen sagt, dass er stottert, entlastet damit sich selbst und seine Zuhörer. Foto: dpa

© dpa-tmn

Gesundheit: Hörbare Hemmung

Stotterer müssen ihr ganzes Leben nach der Sprechstörung ausrichten. Doch es gibt Hilfe – bei zertifizierten Therapeuten.

Telefonieren musste immer seine Frau. Oder im Restaurant das Essen bestellen. Achim Grollmitz hat immer geschwiegen, aus Angst, die Worte könnten holpern, hüpfen oder stecken bleiben. Der 62-jährige Berliner stottert seit seiner Kindheit. Dann kam der Moment, der alles veränderte. Eine Situation, in der er sich verteidigen wollte, unbedingt, egal wie sehr er dabei stottern würde. Aber es klappte nicht. Die Worte kamen nicht aus seinem Mund. Da beschloss er, noch einmal ganz neu sprechen zu lernen – mit 55 Jahren. „Die erste Zeit war anstrengend“, sagt er. Doch eine neue Welt tat sich auf. Eigentlich ein neues Leben. Jetzt geht er selbst ans Telefon.

Mehr als 800 000 Menschen in Deutschland leiden unter einer Sprechstörung, die Martin Sommer, Neurologe an der Universität Göttingen, auch „Redeflussstörung an für die Kommunikation bedeutenden Stellen beim Sprechen“ nennt. Er gehört selbst zu den Menschen, die seit der Kindheit Schwierigkeiten mit dem Sprechen haben. Stottern beginnt in der Regel zwischen dem zweiten und fünften Lebensjahr – oft ohne ersichtlichen Grund. Bei fünf Prozent aller Kinder entwickelt es sich, die meisten verlieren es wieder, wenn sie in die Pubertät kommen. Warum es bei einigen nicht verschwindet, weiß man nicht.

Bei der Sprechstörung wird der Redefluss durch hörbare oder stumme Blockaden, Wortwiederholungen von Wortteilen oder Dehnungen unterbrochen. Beispiel: „…..Block“ oder „k-k-k-kalt“ oder „wwwarm“. Das Schlimme für die Betroffenen ist, dass sie genau wissen, was sie sagen wollen – die Sprache funktioniert einwandfrei. Aber sie können es nicht störungsfrei hinausbringen. Sie verlieren die Kontrolle über den Sprechapparat. Viele versuchen dann, Worte auszutauschen, um die Sprechstörung zu verbergen. Dadurch entsteht ein hoher Leidensdruck für die Betroffenen, weil sie ständig mit Sprache beschäftigt sind und Angst haben, als Stotterer aufzufallen. Emotionen, etwa Nervosität oder Unsicherheit, wirken verstärkend. Zu den Begleiterscheinungen gehören Grimassen wie die Augen zusammenzukneifen, Armrudern oder, bei einer Blockade, mit dem Fuß aufzustampfen. Betroffene tun das, um die körperliche Spannung und Sprechblockade aufzulösen. Vielen hilft es – am Anfang. Doch irgendwann ist es eine lästige Angewohnheit, die schwer wieder loszuwerden ist und den Austausch mit anderen noch erschwert. Mit Intelligenz hat das alles nichts zu tun. Sprechen ist physiologisch sehr komplex: Mund, Nase, Kehlkopf, Atmung und das Zwerchfell sind daran beteiligt. „An all diesen Stufen wurden Störungen gefunden“, sagt Sommer.

Das Schwierigste bei der Behandlung ist, dranzubleiben und das Gelernte in den Alltag zu integrieren. Das geschieht in der Regel mit dem Therapeuten gemeinsam. Später müssen die Patienten es auch alleine machen und den Logopäden berichten. Auch die Einbeziehung des Umfeldes ist sehr wichtig für den Erfolg. Bei Kindern sind das vor allem die Eltern.

Woher kommt das Stottern? Genaues weiß man noch nicht, aber es gibt mehrere Komponenten, die die Störung wahrscheinlicher machen, etwa der Erbfaktor. Auch bei Achim Grollmitz liegt es in der Familie. Aber die Genetik erkläre nicht alles, so Martin Sommer. Er hat Auffälligkeiten im Gehirn erforscht. Bei stotternden Menschen wird der Sprechakt mehr über die rechte Gehirnhälfte gesteuert, bei normal Sprechenden eher über die linke. Ob aber zuerst die Auffälligkeit im Gehirn da war, oder ob das Stottern und damit die Bahnen im Kopf durch die jahrelange Sprechstörung entstanden sind, müssen Experten noch herausfinden.

Martin Sommer hat im Studium schnell gemerkt, dass ein Sprechfluss nicht reicht, trotz Therapien in der Kindheit. Also ging er wieder zur Sprachtherapie und kam mit seiner Logopädin auf die Idee, eine Selbsthilfegruppe zu gründen, damit Betroffene gemeinsam üben und nachsorgen können. Mittlerweile gibt es neben dem Bundesverband in Köln, dem er vorsteht, auch Ortsgruppen, auch in Berlin. „Diese Gruppen helfen sehr, vor allem bei Rückfällen oder um Situationen wie ein Vorstellungsgespräch zu üben“, sagt Sommer. „Wenn ich einen Vortrag halte, was oft passiert, sage ich vorweg, dass ich stottere“. Dann wundere sich niemand mehr und alle Beteiligten seien entlastet. Diesen offenen Umgang hat er sich aus den USA abgeguckt, dort gehört der offensive Umgang mit dem eigenen Stottern zur Therapie.

Auch Alexander Wolf von Gudenberg hat sehr heftig gestottert. Heute ist er Facharzt für Allgemeinmedizin und hat über das Stottern promoviert. Ganz los ist er die Sprechstörung nie geworden, trotz zwölf Therapien. Seine deutschen Professoren wollten ihm den Arztberuf ausreden – zu viel Kommunikation. Doch in den USA hat er neue Behandlungsmethoden kennengelernt, die er später mit nach Deutschland brachte und daraus die Kasseler Stottertherapie entwickelte, die, sagt er, die einzige evidenzbasierte Therapieform in Deutschland sei. Sie ist multimedial, man übt teilweise zu Hause am PC, die Kassen übernehmen die Kosten.

Von Gudenberg teilt mit Achim Grollmitz einen Satz: „Das Stottern hat mein ganzes Leben geformt“. Grollmitz ist nach der Schule Rohrleger geworden. Da er in der DDR aufwuchs, war es für ihn nicht schwierig, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Sonst hätte er sich vielleicht etwas mit weniger Kundenkontakt ausgesucht. Vor seiner intensiven Therapie hat er vermieden, mit Kunden zu sprechen. Er fühlte sich isoliert. Seine Frau, mit der er seit 34 Jahren verheiratet ist, hat er über eine Annonce kennengelernt. Jemanden ansprechen, das hätte er sich damals nie getraut. Wolfgang Wendlandt, Psychotherapeut in Berlin, spricht von einem ungelebten Leben bei Stotterern. Das Wichtigste sei für sie, Situationen zu meiden, in denen sie stottern könnten. Sie suchen den Beruf danach aus oder bestellen im Restaurant lieber ein Essen, das sie störungsfrei aussprechen können als das, was sie wirklich wollen.

Über die Vermittlung von Wendlandt fand Achim Grollmitz die Logopädin Ulrike Felsing, die ihm, wie er sagt, „ ein zweites Leben ermöglicht hat“. Sie gehört zu einer Handvoll Sprachtherapeuten in Berlin, die zertifizierte Experten für das Stottern sind. „Eine Therapie ist ein lebenslanger Prozess, der kontinuierliche Arbeit erfordert“, sagt sie. Für jeden Stotterer muss eine individuelle Therapie gefunden werden. Nicht jede Technik hilft jedem, keine zwei Menschen stottern auf dieselbe Weise. Zwar stottert Achim Grollmitz immer noch, aber er bleibt nicht mehr ständig stecken. Er hat gelernt, flüssig zu stottern und anders damit umzugehen. Er versteckt sich nicht mehr. „Ich habe keine Angst mehr zu sprechen. Die Zeit ist inzwischen vorbei.“

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