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Gesundheit: Im Mittelalter beherrschten Monstervölker die Fantasie der Menschen

Heute werden die unheimlichen Kreaturen geliebtIngo Bach Godzilla und King-Kong, Alien und Elefantenmensch, Pokémons und E.T.

Heute werden die unheimlichen Kreaturen geliebtIngo Bach

Godzilla und King-Kong, Alien und Elefantenmensch, Pokémons und E.T. - glaubt man der Wunderwelt auf Zelluloid, dann wimmelt unsere Gegenwart nur so von Monstern, die uns Zuschauern mehr oder weniger wohlige Schauer über den Rücken jagen. Doch ist das nichts im Vergleich zum Mittelalter. Die Einbildungskraft unserer Vorfahren gebar nicht nur einzelne Fantasiewesen, sondern besiedelte ganze Kontinente mit wunderbaren Völkerschaften. Zirka 50 Fabelvölker sind überliefert: von glatzköpfigen, langbärtigen Frauen, die hervorragend jagen konnten, über die einfüßigen Skiopoden und Pferdefüßler bis hin zu hundeköpfigen Kynocephalen, die als gottesfürchtig und vernunftbegabt galten.

Auffällig, wie viele reine Frauenstaaten es in der mittelalterlichen Vorstellung gab: männermordende Meerfrauen, die sich mit Schiffe versenken die Zeit vertrieben, Weiber in Form von wilden Schweinen und sexuell unersättliche Inselfrauen. Doch hätte es dieser schockierenden Zusätze wohl gar nicht bedurft, um diese "Weibervölker" zu Monstren zu machen. Sie standen schon zu weit außerhalb der mittelalterlichen Norm einer patriarchalischen Gesellschaft und waren damit monströs genug.

Ein Eroberer sammelt Monster

Kerstin Schmitt, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Philologie der Freien Universität, hat sich auf die Spuren einer monsterbesessenen Gesellschaft begeben. Angeregt wurde sie durch den "Alexanderroman" Ulrichs von Etzenbach (um 1280), in dem die Feldzüge Alexanders des Großen in Indien beschrieben werden. "Der Eroberer tritt uns als Forscher entgegen, der die seltsamen Völkerschaften, auf die er stieß, genau studierte", sagt Schmitt. Außerdem habe er von vielen Völkern zwei Exemplare - wenn möglich, Mann und Frau - als Studienobjekte mitgenommen, berichten die fiktiven Chroniken.

Auch Schmitt nähert sich den Wesen wissenschaftlich. "Monster kommt vom lateinischen monstera und bezeichnete alles, was außerhalb der Norm lag: körperlich deformierte Menschen zum Beispiel oder angebliche Mischwesen." Letztere faszinieren die Literaturwissenschaftlerin besonders. "Die Verschmelzung von Mann und Frau oder Mensch und Tier wirkten und wirken bedrohlich, weil sie die Norm in Frage stellen." Gleichzeitig aber ziehen sie uns auch in den Bann, weil sie können, was den zivilisierten Menschen verboten ist.

Im Gegensatz zu heute glaubten die Menschen des Mittelalters fest an die reale Existenz dieser Monster. Es gab wissenschaftliche Abhandlungen über sie, sie tauchten in Enzyklopädien genauso auf wie ihre vermeintlichen Lebensräume in Landkarten eingezeichnet wurden. "Dabei fällt auf, dass es sich immer um Randgebiete der damals bekannten Welt handelte", sagt Schmitt.

Der Begriff Monster war und ist negativ besetzt. Aber das Verhältnis unserer Altvorderen zum Abartigen war durchaus ambivalent. So meinte der bedeutende abendländische Kirchenvater Augustinus (354-430), das Hässliche sei für das Gleichgewicht des Universums unerlässlich. Und so existierten in der imaginierten Welt ebenso gefährliche wie harmlose Monster.

Woher stammten die teilweise recht konkreten Vorstellungen? "Zum Teil waren es durchaus reale körperliche Fehlbildungen, die sich die Menschen nicht erklären konnten", sagt Schmitt. Tiere mit zwei Köpfen zum Beispiel. Andere Figuren haben mythologische Ursprünge, wie die altägyptischen Götter, die häufig mit Tierköpfen dargestellt wurden. Und zum dritten sind es die Erfahrungen von Reisenden, die am Rand der bekannten Welt auf ihnen unerklärliche andere Völker trafen, zum Beispiel die kleinwüchsigen Pygmäen in Afrika.

Andersartigkeit ließ sich auch propagandistisch nutzen, um andere Völker zu diffamieren oder sie ungestört von Moralerwägungen zu unterwerfen und auszubeuten. Juden "vermonsterte" man im Mittelalter als "Kinderfresser". Die Bewohner der Karibik wurden in der Zeit der Entdeckungen als Kannibalen beschimpft. Denn Kolumbus, der mit den fantastischen Reiseberichten des Ritters Jean de Mandeville (14. Jahrhundert) gen Indien aufgebrochen war, glaubte, die dort aufgeführten sagenhaften Menschenfresser gefunden zu haben. Einige der Ureinwohner ließ er sogar nach Europa schaffen, um sie dort auszustellen.

Mit dem Beginn der Neuzeit verschwand der Glaube an reale Monster. Abnormitäten wurden wissenschaftlich als "Betriebsunfälle" der Natur erklärt. Die Wissenschaft verwies die anderen Monsterfiguren ins Reich der Fabel und tat sie als Aberglaube ab. Trotzdem überlebten sie bis in unsere Tage - auch, wenn sie nun zu Einzelfiguren wurden. "Einzig die Aliens im Weltraum dürfen noch als Monstervölker existieren", sagt Kerstin Schmitt. Und so werden die Abnormitäten wieder in die Grenzregionen der bekannten Welt verschoben.

Prügeln erlaubt!

Auch der moderne und aufgeklärte Mensch will nicht von den Monstern lassen. "Sie können Dinge tun, die wir als zivilisierte Menschen nicht tun dürfen", sagt Schmitt. "Sie können ungehemmt ihren Trieben folgen." Sich endlos prügeln zum Beispiel. Die Pokemons (Pocket-Monster) - übrigens ebenso wie Godzilla eine japanische Erfindung - haben mit ihren nun auf Kinoformat aufgeblasenen Prügelorgien sicher schon so manches Pädagogenherz entmutigt. Kinder lieben diese hässlichen Kreaturen abgöttisch. Vielleicht deshalb, weil sie, so die mitgelieferten "Lebensdaten", in der Realität meist kleiner als ein Meter sein sollen. Da bleibt der Grusel in Grenzen. Wahrscheinlich war auch Steven Spielbergs "E.T." deshalb so klein, wie er hässlich war. Schließlich sollte er die Kinder nicht abschrecken, sondern ihr Herz erobern.

Anders die Erwachsenen: Ihre Monster-Erfindungen lassen einem so manches Mal das Blut in den Adern gefrieren. Die Freude am Hässlichen spiele da eine wichtige Rolle, meint Kerstin Schmitt. "Monster sind faszinierend hässlich und wir froh, so niemals auszusehen." In vielen von ihnen äußere sich das tiefverwurzelte Misstrauen gegenüber der Maschine, glaubt die Literaturwissenschaftlerin. Und nennt die modernen Maschinen / Menschzwitter aus dem Kino, Robocop und Terminator. Auch die Angst davor, dass die vom Menschen vergewaltigte Natur zurückschlägt, bringt solche Kreaturen wie Godzilla oder die Riesenameisen Formicula hervor.

Hässlichkeit muss nicht immer äußerlich erkennbar sein. Ein sympathisch wirkender Mensch kann ein psychopathischer Serienkiller sein. Doch ist er damit immer noch abartig, weit von der Norm entfernt. Der Monsterglaube hat alsoauch etwas entlastendes. Wenn man zum Beispiel Männer wie Hitler und Stalin zu Monstern erklärt, entlastet man die Menschheit. "Das sind ja Monster", so Kerstin Schmitt. "Ausnahmefälle, die mit uns nichts zu tun haben."

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