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Gesundheit: Intensivkurs Gefühle

Wie Autisten lernen könnten, die Regungen ihrer Mitmenschen besser zu erkennen

Paul machte schon immer einen etwas gefühlskalten Eindruck. Eines Tages spielte der Neunjährige im Wohnzimmer, als seine Mutter beim Putzen von einer Leiter fiel. Während sie auf dem Boden lag und vor Schmerzen nach Luft rang, kam Paul auf dem Weg zur Küche an ihr vorbei. Er sagte „Hallo Mama“, stieg über sie hinweg und holte sich ein Glas Saft, als wäre nichts geschehen.

Für Paul war auch nichts passiert. Er hat das Aspergersyndrom, eine milde Form des Autismus. Der Junge ist zwar nicht dumm. Im Gegenteil, er kann die Börsenkurse der letzten Wochen herunterbeten und stundenlange Vorträge über die Staatsverschuldung halten. Wie viele Autisten hat Paul enorme mathematische Fähigkeiten und ein beachtliches Gedächtnis – doch die Gefühle anderer Menschen erkennen, das kann er nicht.

Die US-Forscherin Geraldine Dawson beschreibt Pauls Geschichte in einem Ratgeber für betroffene Eltern („A Parent’s Guide to Asperger Syndrome and Autism“, Guilford Press 2002). Auf dem Kongress der Amerikanischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, der am Montag in Seattle zu Ende ging, stellte die Direktorin des Zentrums für Autismus der Universität von Washington neue Erkenntnisse zur Entstehung der Krankheit vor. Sie sollen Menschen wie Paul eine bessere Behandlung ermöglichen.

Die Rolle der Gene

„Viele Eltern von Autisten fühlen sich daran schuldig, dass ihr Kind so rücksichtslos ist“, sagte Dawson. „Sie glauben, sie hätten in der Erziehung etwas falsch gemacht.“ Tatsächlich ist bekannt, dass bei der Entstehung der Krankheit Vererbung eine wichtige Rolle spielt. So beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem autistischen Zwillingskind auch das andere betroffen ist, bei eineiigen Geschwistern 95 Prozent. Bei zweieiigen liegt sie nur bei 20 Prozent. Forscher schließen daraus, dass zahlreiche Gene beteiligt sein müssen: Erst wenn mehrere Risikogene von beiden – gesunden – Eltern in einem Kind zusammenkommen, führt dies zu Autismus.

Doch Autismus ist auch ein Beispiel dafür, wie begrenzt unser Wissen noch über die Zusammenhänge zwischen Genen und Krankheiten ist. Nicht einmal über die genaue Zahl der Autismus-Gene sind sich die Forscher einig. Schätzungen reichen von 15 bis 100. Zwar haben Wissenschaftler schon einige wenige Kandidaten-Gene identifizieren können. Wie diese aber letztlich Autismus verursachen, ist völlig unklar.

Hirnforscher sind da etwas weiter. Mindestens „vier Regionen in unserem Gehirn sind daran beteiligt, unser soziales Verhalten zu steuern“, sagte Dawson. Untersuchungen der Gehirndurchblutung deuten darauf hin, dass gerade diese Hirnbereiche bei Autisten weniger aktiv sind.

Kann das erklären, warum Paul seiner Mutter nicht geholfen hat? Vielleicht schon. Eine Hirnregion im Schläfenlappen übernimmt die Aufgabe, Bewegungen in Gesichtern zu erfassen. Paul, bei dem diese Region vermutlich gestört ist, hat einfach nicht erkannt, dass das Gesicht seiner Mutter von Schmerz verzerrt war. Mehr noch: Auf Grund einer geringeren Aktivität im Mandelkern, einem wichtigen Gefühlsareal im Kopf, konnte Paul die Grimasse nicht als ein Gefühl, als Schmerz interpretieren. Bereiche im Stirnhirn wiederum lassen uns die Absichten und Wünsche anderer erkennen. Paul dagegen kam überhaupt nicht auf die Idee, dass seine Mutter Hilfe brauchte.

Handelt es sich bei diesen Störungen um die gesuchte vererbbare Grundlage des Autismus? Dawson ist skeptisch. Sie hat noch die vierte Hirnregion untersucht, die mit der Erkennung von Gesichtern zusammenhängt, es ist der „fusiforme Gyrus“. Die meisten Autisten entwickeln die typischen Symptome schon vor dem dritten Lebensjahr. Dazu gehört unter anderem, dass sie sich schlecht an Gesichter erinnern können. Und Forscher haben beobachtet, dass der fusiforme Gyrus schon bei autistischen Kleinkindern ungewöhnlich wenig durchblutet wird, wenn ihnen Gesichter gezeigt werden. Stattdessen behandeln Autisten den Anblick von Menschen anscheinend wie den von Gegenständen: Es werden Hirnregionen aktiviert, die normalerweise bei der Erkennung von leblosen Objekten anspringen.

Allerdings ist die Gesichtserkennung nicht ganz angeboren. Auch bei einem gesunden Kind bedarf sie einer Feinabstimmung durch Erfahrung. Genau die fehlt aber den autistischen Kindern – denn sie meiden von früh an jeden Augenkontakt. Haben Autisten die Gesichtserkennung also einfach nicht genug üben können? Eine Antwort auf diese Frage wäre wichtig: Sollte die Störung der sozialen Hirnregionen nicht in erster Linie genetisch sein, dann könnte man Autisten trainieren, diese mehr zu benutzen. Die Krankheit wäre dann kein unabänderliches Schicksal mehr.

Das Gesicht der Mutter

Dawson konnte zeigen, dass es doch ein Gesicht gibt, auf das auch der fusiforme Gyrus bei Autisten reagiert: das Gesicht der Mutter. „Das zeigt, dass die Hirnregion nicht komplett gestört ist“, so Dawson. „Wir müssen also möglichst früh eingreifen." Die Ärztin will nun autistischen Kleinkindern ein intensives Training geben: 25 Stunden pro Woche, zwei Jahre lang, sollen sie für Augenkontakt lernen, welche Teile eines Gesichtes wichtig sind. Dawson hofft zeigen zu können, dass sich die Hirnaktivität normalisiert. Tatsächlich wurde eine solche Intensivbehandlung in den USA schon erprobt. Mit Erfolg: 25 Prozent der Kinder zeigten eine Verbesserung ihres Verhaltens und konnten danach eine normale Schule besuchen.

„Ein Training der Gesichtserkennung ist auch in Deutschland erfolgreicher Bestandteil der Therapien“, sagt Maria Kampinski, Vorsitzende der Bundesvereinigung „Hilfe für das autistische Kind“ in Hamburg. Während sie hierzulande nach dem Bundessozialhilfegesetz bezahlt wird, müssen amerikanische Eltern sich die Hilfe für ihr Kind dagegen mit 25000 Dollar pro Jahr erkaufen. Dawson will mit ihren Ergebnissen auch daran etwas ändern.

Elke Binder[Seattle]

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