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Gesundheit: Kam die samtene Revolution zu früh?

Die Tschechen ringen um die Bewertung der kommunistischen Vergangenheit

Erst kamen die Menschen mit Kerzen und Blumen, dann die Polizei mit Schlagstöcken und Schilden: Obwohl die erste große Demonstration gegen den Staatssozialismus am 17. November 1989 von der tschechoslowakischen Polizei mit Gewalt aufgelöst wurde, brachten Straßenproteste der folgenden Tage in der „Samtenen Revolution“ das härteste der kommunistischen Regime Ostmitteleuropas zu Fall. Nun, 15 Jahre später, wird in Tschechien ein Tauziehen um die Vergangenheit geführt, in das sich sogar der gewesene Präsident Václav Havel und der amtierende Präsident Václav Klaus eingeschaltet haben. Es ist ein Streit um die Bewertung der kommunistischen Vergangenheit, der Radiodiskussionen, Talkshows und Spezialbeilagen der großen Tageszeitungen füllt.

Etwa 3000 Studenten der Prager Karlsuniversität demonstrierten am vergangenen Mittwoch, dem staatlichen Gedenktag, auf der historischen Trasse gegen den steigenden Einfluss der Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens, der bei den letzten Wahlen zum Senat und den Kreistagen mancherorts weit über 20 Prozent der Stimmen zufielen. Deren Vorsitzender Miroslav Grebenícek verdarb unterdessen eine Festveranstaltung des tschechischen Abgeordnetenhauses mit einer scharfen Rede, in der er sagte, der Strom von Lügen und Hass sei bis heute nicht versiegt – nach 1989 hätte er seine Fortsetzung in der Überprüfung auf Mitarbeit im Staatssicherheitsdienst gefunden, wobei „unbequemen Leuten der Mund verschlossen wurde“.

Der ehemalige tschechische Präsident Václav Havel meldete sich am gleichen Tag bei einer Diskussion zu Wort und forderte von den kommunistischen Eliten, sie sollten sich zu ihrer Vergangenheit bekennen, ihren Anteil an der Aufrechterhaltung des Regimes einschätzen und sich dafür entschuldigen. Vojtech Cepl, ein Prager Rechtsprofessor, monierte, dass bis heute wichtige Posten an Universitäten und Gerichten mit ehemaligen Kommunisten besetzt seien.

So tut sich in Tschechien eine Front auf zwischen antikommunistisch eingestellten Verfechtern einer Geschichtsversessenheit und den Anwälten opportuner Geschichtsvergessenheit. Denn der tschechische Präsident Václav Klaus trug vor zwei Wochen einen Aufruf „zur Aussöhnung mit unserer ureigenen Vergangenheit“ vor. Die Wahl zum Präsidenten war Klaus vor zwei Jahren nach mehreren Anläufen erst mit kommunistischen Stimmen gelungen.

Dagegen stellt sich ein Aufruf der Akteure von 1989: „Wir glauben, dass Leute, die systematisch ihre Mitbürger terrorisierten, keinen Platz im öffentlichen Leben dieses Landes finden sollten“, betont die Initiatorin Monika Pajerová. „Wir brauchen hier etwas, wie es die Gauck-Behörde in Deutschland ist", sagt der Unterzeichner Pavel Žácek. Der am Tschechischen Institut für Zeitgeschichte tätige Historiker fordert einen freien Zugang zu den Archiven des Staatssicherheitsdienstes, des Innen- und des Verteidigungsministeriums.

Die Kontroverse um die Vergangenheit ist inzwischen in eine Debatte darüber gemündet, ob die 1989er tschechoslowakische Revolution nicht insgesamt eine verfrühte war. Historiker wie Pavel Žácek und Jirí Suk weisen darauf hin, dass die Ereignisse von 1989 die Opposition überrollten. In der „verfrühten Revolution“, auf die die Gesellschaft weder mental noch politisch vorbereitet gewesen sei, blieb keine Zeit, eine komplette Übernahme des Staatswesens zu organisieren, sagt Žácek. Weil die Opposition – so lautet die Argumentation der Kommunismusgegner – keine Umbaupläne in der Tasche hatte, konnte der 1989er Umbruch dann auch nicht tief genug greifen.

Christian Domnitz[Prag]

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