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Gesundheit: Kein Kinderspiel

Immer mehr Eltern fühlen sich überfordert. Wie hilfreich ist Elterntraining?

Seit zwei Jahrhunderten wird die Familie als Erziehungssystem entmachtet. Zuerst in langsamen Schritten, seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht vor 100 Jahren dann in rasantem Tempo: Erziehungs- und Bildungsleistungen wurden nach und nach aus dem urwüchsigen, informellen sozialen System „Familie“ in die gesellschaftlich organisierten und von professionellen Fachleuten gesteuerten Systeme Kindergarten, Schule und Berufsausbildung ausgegliedert. Vormals miteinander vermischte Aufgaben entflechten sich, werden spezialisiert und in gesondert hierfür eingerichtete gesellschaftliche Institutionen verlagert.

Ganz aktuell spiegelt sich diese Entwicklung in der wachsenden Nachfrage von Müttern und Vätern nach Elterntraining. Damit geben die Eltern unfreiwillig zu erkennen, ihrer Erziehungsaufgabe nicht mehr gewachsen zu sein. Sie spüren den Atem der professionellen Erzieherinnen und Erzieher in ihrem Nacken. Deren Bedeutung wächst, nicht zuletzt auch wegen des Ausbaus von Ganztagsangeboten. Ob sie es wollen oder nicht – Eltern werden hierdurch aus der Erziehung ihrer Kinder zurückgedrängt, sie verbringen während eines Tages weniger Zeit als früher zusammen mit ihren Sprößlingen. Zugleich aber erhöhen sich die Anforderungen an die Qualität ihrer Erziehungsleistungen. Deshalb ist eine Unterstützung der privaten Familienerziehung durch eine professionell angeleitete Elternbildung notwendig geworden.

In den modernen westlichen Gesellschaften erfahren die Eltern inzwischen auch den globalen wirtschaftlichen Wettbewerbsdruck. Nicht nur in Deutschland haben die Ergebnisse der international vergleichenden Leistungsstudien wie Pisa für große Aufregung gesorgt, weil sie eklatante Bildungsdefizite bei den Schülern aufgedeckt haben. Mehr noch: Aus den Berichten wurde klar, es ist die Familie, die entscheidende Voraussetzungen für den Erfolg von Lern- und Bildungsprozessen der nachwachsenden Generation schafft. Dieser Zusammenhang scheint in Deutschland sogar besonders intensiv zu sein. Bei uns spiegelt sich die soziale Herkunft eines Kindes in einem ungewöhnlich hohen Maß in seinem Schulerfolg.

Schon seit Jahrzehnten zeigen wissenschaftliche Untersuchungen aus der Familienforschung, wie negativ sich materielle Probleme von Eltern auf die Qualität ihres Erziehungshandelns auswirken. Finanzielle Einschränkungen wirken wie psychisches Gift auf die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern. Sind Vater oder Mutter arbeitslos, verfügen sie nur über relativ geringe materielle Ressourcen, dann werden sie zu unsouveränen Eltern, greifen häufig zu aggressiven Erziehungsmethoden und verlieren die Fähigkeit zur Strukturierung der Beziehung zu ihren Kindern. Ist das körperliche und psychische Wohlbefinden von Vätern und Müttern unterminiert, dann ist auch ihre Erziehungsleistung schlecht.

Heute haben wir massenhaft mit dieser Situation zu tun. Bis zu 20 Prozent der Kinder in Deutschland leben in vielen Regionen in relativer Armut. Durch diese meist nicht von ihnen verschuldeten gesellschaftlichen Umstände werden Väter und Mütter zu schlechten Eltern. Ein weiterer Grund, der deutlich macht, wie stark die von ihrem Charakter her „private“ Aufgabe von Eltern, ihre Kinder zu erziehen, eine im allgemeinen gesellschaftlichen Interesse stehende, „öffentliche“ Aufgabe geworden ist.

Die schnelllebige, hektische und chaotische Gesellschaft macht es zudem vielen Eltern schwer, dem eigenen Kinde gegenüber sozialen Halt, Gewissheit und Zukunftsvertrauen zu vermitteln. Insgesamt dürfte es etwa ein Drittel der Eltern in Deutschland sein, die Unterstützung für das so schwierige Erziehungsgeschäft benötigen. Einfach auf die mütterliche Intuition und den väterlichen Instinkt zu vertrauen – das reicht in der heutigen Situation nicht mehr aus.

Aus Untersuchungen wissen wir, welche Art von Unterstützung Eltern sich selbst wünschen. Die Kölner Erziehungswissenschaftlerin Sigrid Tschöpe- Scheffler hat in Interviews erfragt, wie sich Mütter und Väter die Unterstützung in ihrem Erziehungsalltag vorstellen. Es sind vier Bereiche, die auf der Wunschliste stehen:

1. Eltern wünschen sich ganz konkrete Hilfen, um sich bei Konflikten mit ihren Kindern im Erziehungsalltag sicherer zu fühlen. Sie möchten ihre Handlungskompetenz erweitern.

2. Eltern suchen Informationen über die körperliche, psychische und soziale Entwicklung der Kinder, damit sie besser verstehen, was ihre Kinder jeweils brauchen. Sie möchten kinderpädagogisches und kinderpsychologisches Wissen vermittelt bekommen.

3. Eltern möchten mehr über sich selbst erfahren, über die Ursachen von Konflikten und Problemen im Umgang mit ihren Kindern. Sie wünschen sich also Hilfen, um ihre soziale Rolle als Vater und Mutter bewältigen zu können.

4. Eltern wünschen sich den Austausch mit anderen Eltern und die Erweiterung des sozialen Netzwerkes, um praktische Unterstützung von Menschen in ähnlichen Lebenssituationen zu erhalten.

Interessant an dieser Liste sind vor allem die beiden letzten Punkte. Viele der heute angebotenen Elternkurse (und erst recht boulevardmäßig gemachte Fernsehsendungen wie „Super-Nanny“) vernachlässigen den Zusammenhang von Kindererziehung und Selbsterziehung, flüchten sich in trockene Informationen und technische Erziehungsanleitungen und beachten dadurch die persönliche Lebenssituation von Vätern und Müttern zu wenig.

Ein systematisches Training in Verhaltensänderung mag seinen Sinn haben, denn die Entwicklung eines Kindes hängt von der unmittelbaren Art des Umgehens zwischen Mutter und Kind oder Vater und Kind ab. Aber: Dieses Umgehen ist immer in einen sozialen Kontext einbezogen, spielt sich in einer bestimmten Nachbarschaft und in Zusammenarbeit mit Kindergärten, Sportvereinen, Musikschulen, Grundschulen und anderen Institutionen ab. Eltern spüren, wie sehr ihr Kind es lernen muss, sich in diesem gesamten Umfeld zu bewegen, und sie wünschen sich hierfür Anleitung.

Werden die heutigen Angebote von Elternkursen den Wünschen gerecht? Es ist erstaunlich, welch ein lebendiger Markt sich in den letzten fünf Jahren in Deutschland entwickelt hat. Es dürften insgesamt wohl ein Dutzend konkurrierender Anbieter sein, die sich um die Gunst der Eltern bemühen. Sie orientieren sich an unterschiedlichen pädagogischen und psychologischen Konzeptionen, was die Orientierung für viele Eltern nicht ganz einfach macht. Sie arbeiten entweder nach humanistischen und kommunikationsorientierten oder lerntheoretischen und verhaltenstherapeutischen Ansätzen.

Die erste Gruppe von Elternkursen steht in der Nähe des Elterntrainings, das Thomas Gordon in den 70er Jahren bildhaft als „Familienkonferenz“ propagiert hat. Die Methoden der „aktiven Zuhörens“ und der „Ich-Botschaften“ gehören seitdem zu fast allen Kursen in dieser Tradition. Das Programm des Deutschen Kinderschutzbundes „Starke Eltern – starke Kinder“, das in Deutschland besonders verbreitet ist, folgt im Großen und Ganzen einem solchen Ansatz, der durch individualpsychologische Komponenten erweitert wird. Auch das aus den USA übernommene STEP-Elterntraining, das inzwischen große Nachfrage erfährt, basiert auf solchen interaktiven Ansätzen.

Aus der Gruppe der lerntheoretisch und verhaltensverändernd ausgerichteten Kurse werden vor allem die Angebote des Positive Parenting Program („Triple P“) sehr gerne von Eltern aufgenommen. Dieses Programm hat eine klare Orientierung an Prinzipien des Lernens durch Versuch und Irrtum und arbeitet mit strikten Methoden der Belohnung, des gezielten Ignorierens und der strengen Anweisung.

Im Idealfall kann ein solcher bunter Markt von Angeboten günstig sein, denn Eltern können sich je nach ihrer Lebenslage und ihren persönlichen Präferenzen das angemessene Konzept auswählen. Viele Eltern scheinen heute aber durch die Konkurrenz der verschiedenen Anbieter irritiert zu sein. Es wird höchste Zeit, von seiten des Bundesfamilienministeriums oder des Deutschen Jugendinstituts oder einer anderen bundesweit verantwortlichen Institution Orientierungs- und Strukturhilfen und unbedingt auch Qualitätshinweise anzubieten.

Mit den Elternkursen kommt ein kommerziell orientierter Anbieter in einen bislang öffentlichen, staatlich beherrschten Bereich. Besonders deutlich wird das beim Programm „Triple P“, das in Deutschland von einer Aktiengesellschaft getragen wird. Damit steht fest, wer von der kommerzialisierten Elternbildung unmittelbar profitiert: Es sind die Anbieter der Programme. Elternbildung wird zu einem Gut, das gekauft werden kann, für das bezahlt wird.

Eine Parallele gibt es im schulischen Bildungsbereich, wo sich seit 20 Jahren neben das staatlich-hoheitliche Schulsystem und das System der „Ersatzschulen“ ein kommerzieller Sektor geschoben hat, nämlich die „Nachhilfeinstitute“. Bislang ist es im Schulbereich nicht gelungen, eine kreative Kooperation zu bewerkstelligen. Vielmehr kommt es zu unproduktiven Abgrenzungen. Diese Gefahr droht nun auch für die Elternbildung. Die privaten und kommerziellen Angebote stehen neben den traditionellen, öffentlichen – und oft unentgeltlichen – von Kirchen, Kommunen, Wohlfahrtsverbänden und Volkshochschulen.

Ob kommerziell oder öffentlich – die Angebote der Elternbildung erreichen heute bestimmte Schichten kaum. Darunter sind allein erziehende Eltern, Eltern aus Großfamilien, Eltern mit Migrationshintergrund, Eltern in relativer Armut, sehr junge Mütter, Eltern mit einem geringen Bildungsgrad und Eltern mit intensiver Berufstätigkeit.

Unsere Untersuchungen an der Universität Bielefeld zeigen, wie stark gerade diese Eltern von einem guten Programm der Elternbildung profitieren. Aber sie sind ungeheuer schwer erreichbar, vor allem deshalb, weil sie nicht die Motivation und das Problembewusstsein haben, um sich aus eigenem Antrieb um ein Elterntraining zu kümmern. Eine wichtige Erkenntnis aus unseren Untersuchungen: Das Angebot zur Elternbildung sollte in die Kindergärten, Grundschulen und weiterführenden Schulen direkt einbezogen sein und dort von den Erzieherinnen und Pädagoginnen vermittelt werden. Auf diese Weise ist die Barriere nicht so hoch, sich das Angebot anzuschauen und sich auf einen Elternkurs einzulassen.

Der Autor leitet das Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik an der Universität Bielefeld.

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