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Gesundheit: Kinder leben gefährlich

Unfälle sind die häufigste Todesursache im Kindesalter. Experten suchen nach Präventionsstrategien

Kinder wollen die Welt entdecken, mit allen Sinnen. Nicht immer geht das gut aus. Da geht die Mutter nur mal kurz in die Küche, schon klettert die kleine Tochter auf einen Stuhl, dann aufs Fensterbrett – und stürzt durch offene Fenster zwei Stockwerke tief hinunter. Ein Zweijähriger will mit dem Baby spielen und stopft ihm eine Kastanie in den Mund; es erstickt. Eine Dreijährige reißt ein Töpfchen, dessen Stiel über den Rand des Herdes ragt, herunter und verbrüht sich mit kochendem Wasser. Etwa 1,8 Millionen Kinder in Deutschland – jedes siebte – verunglücken pro Jahr so schwer, dass sie ärztliche Hilfe brauchen.

Besonders betroffen sind Kinder aus sozial benachteiligten Familien. Deshalb stand am Wochenende in Berlin auf dem Programm des 10. bundesweiten Kongresses „Armut und Gesundheit“ auch die Prävention von Unfällen im Kindesalter. Es ist wenig bekannt, dass sie – trotz eines erfreulichen Rückgangs der Fälle – noch immer der zweithäufigste Grund für eine ambulante oder stationäre Behandlung und die häufigste Todesursache sind. Im Jahr 2000 verunglückten 532 Kinder (bis 15 Jahre) tödlich, 2002 waren es noch 504 – mehr als durch Krebs und Infektionskrankheiten zusammen.

Dennoch wird das Problem in Deutschland zu wenig wahrgenommen, sagte Martina Abel von der Bundesarbeitsgemeinschaft „Mehr Sicherheit für Kinder e.V.“ in Bonn (www.kindersicherheit.de). Dieser Dachverband zur Verhütung von Kinderunfällen befasst sich vor allem mit den Gefahren zu Hause und in der Freizeit. Denn dort passiert am meisten, nicht, wie oft angenommen, im Straßenverkehr. Über eine Million Kinder verletzen sich in der Schule, 256000 zu Hause, 315000 bei Freizeitaktivitäten . Die Verkehrsunfälle stehen mit 215000 erst an letzter Stelle, sind jedoch schwerer: Etwa die Hälfte der tödlichen Kinderunfälle geschieht im Straßenverkehr.

Von schweren oder gar tödlichen Unfällen am meisten betroffen sind Säuglinge und Kleinkinder. Babys verletzen sich an scharfkantigem Spielzeug, ersticken an Murmeln oder Bohnen, stürzen mit der rollenden „Laufhilfe“ die Treppen hinab, kippen mit dem Kinderhochstuhl um oder werden auf dem Schoß der Mutter verbrüht, wenn sie deren Kaffeetasse über sich ausschütten. Das reicht, um 30 Prozent der Haut zu schädigen, und weil sie noch so dünn und zart ist, braucht der Kaffee dazu nur 52 Grad heiß zu sein.

„Es ist kriminell, wo überall gewickelt wird, zum Beispiel auf der Waschmaschine“, sagt Gabriele Ellsäßer vom Landesgesundheitsamt Brandenburg. Aber auch vom Wickeltisch kann ein zappelndes Baby fallen, wenn die Mutter ihm nur kurz den Rücken dreht. Im Land Brandenburg registriert man weit mehr verletzte und doppelt so viele tödlich verunglückte Kinder wie im Bundesdurchschnitt. Bis zur Einschulung hatten dort schon 15 Prozent der Jungen (und etwas weniger Mädchen) behandlungsbedürftige Unfälle wie Gehirnerschütterungen, schwere Schnittwunden, Verbrennungen und Verbrühungen; letztere besonders häufig in der untersten sozialen Schicht. Deshalb bemüht sich eine Arbeitsgruppe mit Vertretern von 32 Institutionen seit 1996, eine Präventionsstrategie zu entwickeln, die wissenschaftlich fundiert ist.

Die Unfallforschung hat verschiedene Ursachen dafür gefunden, dass vor allem Kleinkinder oft verunglücken. Sie haben noch kein Gefahrenbewusstsein, sehen die Welt aus der Froschperspektive, haben ein um 30 Grad geringeres Gesichtsfeld, können Entfernungen noch nicht einschätzen und Geräusche nicht exakt orten. Kinder unter fünf Jahren reagieren nur halb so schnell wie Erwachsene, bleiben also auf Zuruf nicht sofort stehen. Die Koordinationsfähigkeit entwickelt sich erst allmählich.

Die Unfallverhütung ist ein typisches Beispiel für Aufgaben, die von Medizin und Gesundheitspolitik allein nicht zu lösen sind. So bildete sich beispielsweise vor zwei Jahren der „Arbeitskreis Kinderunfälle Berlin“ (pls-ges.marzahn-hellersdorf-berlin.de) als Plattform und Kontaktbörse für alle beruflich oder ehrenamtlich Interessierten. Ziel ist es, Präventionsstrategien zu entwickeln und anzuwenden. Nur: „Wir wissen noch nicht, was wirklich präventiv wirkt“, sagte Martina Abel. Vernachlässigt würde bislang die Evaluation der Maßnahmen zur Aufklärung und Sensibilisierung der Betroffenen und der Öffentlichkeit. Meist würden die Ergebnisse nicht einmal dokumentiert. Die Qualitätssicherung stecke noch in den Anfängen. Dass die Flut von Informationsblättern und -broschüren für junge Mütter etwas nützt, wurde auf der Tagung bezweifelt. Die unteren sozioökonomischen Schichten würden damit ohnehin nicht erreicht. Effektiv scheint dagegen das persönliche Gespräch mit der Hebamme oder dem Arzt zu sein.

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