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Gesundheit: Körperlich überleben, seelisch beinahe sterben

Traumatisierte müssen behandelt werden: Eine Begegnung mit Martin Wangh, einem Pionier der Psychoanalyse

Von Caroline Fetscher

Auf der „Conte di Savoia“, die 1938 den Atlantik von Italien nach New York überquerte, hörte Martin Wangh die Nachrichten. Der Bordfunk verkündete, dass die Rassengesetze der Faschisten nun auch in Italien gelten, dem Land, in dem Wangh eben promoviert hatte. So begann für den jungen, jüdischen Psychiater eine Reise, die in der Emigration endete. Er wurde Psychoanalytiker in New York.

Geboren in Leipzig vor 94 Jahren, ist Martin Wangh einer der „dienstältesten“ Psychoanalytiker der Welt. Sein Leben lang begleiten ihn die Fragen, die er mit ins Exil nahm: Wie und warum ist die menschliche Psyche fähig, zerstörerisch oder integrierend zu wirken?  

Auf der Potsdamer Tagung „Psychoanalyse und Sprache“, ausgerichtet von der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV), war Wangh jetzt zu Gast. Neugierig, mild und melancholisch blickend hörte er zu. Vielen war es eine Ehre, Wangh zu begegnen, einem Pionier der Zunft, die von den Nationalsozialisten verfolgt  wurde.

Am Montag setzte das Psychoanalytische Institut der DPV Martin Wangh mit einer Büste ein Denkmal. Geehrt wird damit auch sein Engagement für traumatisierte Überlebende von Konzentrationslagern. Wangh gilt als einer der Vorkämpfer für die offizielle Anerkennung von Traumatisierung als klinisch manifestem, psychischem Leiden. Er erkannte, dass Traumatisierung auch darum behandelt werden muss, weil sie sonst über Generationen fortwirkt. Wanghs Arbeit auf diesem Gebiet begann, als er sah, wie die Überlebenden der Shoah  für eine Anerkennung und Finanzierung ihrer Therapie „allenthalben gegen die ablehnenden Bescheide der deutschen Wiedergutmachungs-Kammern kämpften“. Er merkte: „Die Ablehnung beruhte zumeist auf Fehldiagnosen der deutschen psychiatrischen Obergutachter.“ Wangh, der als junger Arzt auch eine Begegnung mit Freud in Wien hatte, der Anna Freud gut kannte und  in der American Psychoanalytic Association aktiv war, gründete einen Sachverständigen-Verband, um „öffentlich gegen solche Fehlurteile einzutreten“. Fehlurteile, die, wie seine Kollegen betonen, bis heute vorkommen, wenn deutsche Behörden seelisch schwer geschädigte Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten ausweisen.     

Doch auch hier gälte es zu verstehen – etwa die Unaufgeklärtheit und psychische Abwehr von Behördenpersonal. „Ein Analytiker muss immer verstehen wollen“, erläutert Martin Wangh. Zwar nicht entschuldigen, aber begreifen.

Woher, das gilt es immer noch zu begreifen, stammt das Gespenst des Ressentiments? Wie entsteht Gewalt? Warum gibt es Kriege? Martin Wangh, der am Sigmund Freud Center der Hebrew University in Jerusalem lehrte sowie am Albert Einstein Medical College in New York, ist fest überzeugt: Ohne die Psychoanalyse, ohne das Tiefenverständnis  seelischer Konflikte bei Individuen und Gesellschaft, wird sich die Welt weder verstehen noch kurieren können.         

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