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Gesundheit: Krampf im Kopf

In der Epilepsieklinik Tabor in Bernau setzt man bei der Therapie auf Körper und Seele

Mit 19 Jahren passierte es das erste Mal: Andreas reagierte plötzlich nicht mehr. Ins Leere blickend, schmatzte er eigentümlich und brachte nur noch sinnlose Phrasen heraus. Es dauerte einige Zeit, bis jemand auf die Idee kam, es könnte sich bei den bizarren Einlagen um Epilepsie handeln.

Aber auch damit war Andreas nicht gedient. Kein Medikament, so schien es, half. Im Gegenteil, die Anfälle kamen öfter. Zweimal am Tag nahm sich sein Gehirn eine Auszeit.

In Fachzentren wie der Epilepsieklinik Tabor in Bernau werden Fälle wie Andreas genauer unter die Lupe genommen. Fälle, bei denen es nicht ausreicht, einfach ein Medikament zu geben. Denn oft ist Epilepsie nicht nur eine lästige, stigmatisierende und bedrohliche Angelegenheit, sondern auch eine organisch komplizierte. Es ist eine Störung, die aus den unterschiedlichsten Hirnerkrankungen resultieren kann. Dementsprechend weit reicht die Palette der Erscheinungsbilder: Von der kurzen Abwesenheit bis zum großen Krampfanfall, dem „Grand mal“.

Was dabei im Kopf passiert, ist indes immer das Gleiche: Nervenzellen synchronisieren ihren Informationsfluss und können so nicht mehr richtig arbeiten. „Es kommt zur Rhythmuskatastrophe“, wie Hans-Beatus Straub, Chefarzt der Bernauer Klinik, es ausdrückt. Seit zwei Jahren leitet der Neurologe den Bernauer Standort des Epilepsiezentrums Berlin-Brandenburg. Gemeinsam mit dem Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge in Lichtenberg bildet man ein Kompetenz-Netzwerk. Die Basisversorgung leisten beide Häuser, doch hat man sich auf unterschiedliche Zusatzprogramme spezialisiert: Während ein wichtiger Schwerpunkt der Berliner Ärzte die Vorbereitung zur Epilepsiechirurgie ist, haben die Bernauer Kollegen komplizierende Zusatzerkrankungen auf dem Plan. „Wir sind besonders auf solche Patienten ausgerichtet, bei denen eine Mehrfachbehinderung die Therapie erschwert oder bei denen eine psychische Störung hinzukommt“, sagt Straub.

Der Umgang mit Problemfällen hat Historie in der Klinik, die vor zwei Jahren von Lobetal ins nahe Bernau umzog. Vor genau 100 Jahren gründete der Pastor Friedrich von Bodelschwingh den diakonischen Verein „Hoffnungstal“ in Lobetal. Dort bot er den Obdachlosen Berlins eine Bleibe und Arbeit an, aber auch körperlich und geistig Behinderten.

„Jede Schädigung des Gehirns kann Ausgangspunkt von epileptischen Anfällen werden“, sagt Hans-Beatus Straub. Geistig Behinderte leiden dementsprechend häufig unter Anfällen. So wurde Lobetal auch ein Zentrum für Epilepsiekranke. Jedoch sei das Anfallsleiden keineswegs mit einer Behinderung gleichzusetzen, wie der Mediziner betont: „Achtzig Prozent der Epilepsiekranken sind nicht geistig beeinträchtigt.“ Die Störung bedarf keines großen Defekts am Nervensystem. Manchmal sind es kaum sichtbare Webfehler, von denen die Anfälle ausgehen.

Auf Andreas’ Kernspintomografie waren winzige Narben in den Schläfenlappen seines Gehirns zu entdecken. Möglicherweise Folge einer Hirnhautentzündung, die er als Kind hatte. Die kaum auszumachenden Defekte erklärten seine eigenartigen Anfälle gut. So genannte komplex-fokale Anfälle, bei denen er plötzlich nicht mehr reagierte und stereotyp mit den Händen nestelte. Doch war da noch das große Zittern, dass so gar nicht ansprechen wollte auf irgendeine Form herkömmlicher Therapie. Der Weg ins Epilepsiezentrum brachte schließlich Licht ins Dunkel: Einige seiner Anfälle waren offenbar nicht hirnorganisch, sondern psychisch bedingt.

Seelische Traumata wie der Verlust eines nahen Verwandten oder sexuelle Gewalt in der Kindheit führen bei einigen Menschen dazu, dass sie Anfälle unbewusst „inszenieren“, um aus der Erinnerung „auszusteigen“. Diese Anfälle sind von epileptischen äußerlich oft schwer zu unterscheiden. Bei ihnen lässt sich jedoch keine Krampfaktivität in der Hirnstromkurve feststellen. Nur wenn solche Ereignisse korrekt zuordnet werden, kann die richtige Therapie erfolgen. „Die Anfälle haben mit Epilepsie nichts zu tun, können allerdings bei Epilepsiepatienten zusätzlich auftreten“, sagt der Mediziner Straub.

Meist versucht man, die seelische Störung mit Psychotherapie oder auch Psychopharmaka zu behandeln. Maßnahmen, die wiederum oft auch bei Epilepsiepatienten erforderlich werden. Depressionen etwa können als Reaktion auf das Anfallsleiden entstehen. Epileptische Herde im Gehirn können aber auch Angsterkrankungen begünstigen. „Die Schnittmenge von psychischen Leiden und Epilepsie ist noch größer, als man früher annahm“, sagt Straub.

Eine Erkenntnis, die half, das komplexe Geflecht bei Andreas zu lösen. Denn die größte Last auf seiner Seele konnte moderne Technik nicht sichtbar machen: den Unfalltod seiner Mutter, den der damals Zwölfjährige mit eigenen Augen mit ansehen musste. Die Kombination aus Epilepsie- und Psychotherapie brachte den Erfolg. Heute hat er maximal zwei Anfälle im Jahr.

Christian Guth

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