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Gesundheit: Krebszellen ersticken in ihrem Müll

Ein neues Medikament könnte Hilfe bei Tumoren oder bei Aids bringen – erste Therapieversuche bei Knochenmarkkrebs sind viel versprechend

Stellen Sie sich vor, Ihr Müll würde nicht abgeholt. Er würde sich anhäufen. Zunächst in der Küche, dann überall in der Wohnung. Schließlich müssten Sie ausziehen.

Was wie ein kafkaesker Traum klingt, ist längst Wirklichkeit – in der Krebstherapie. Denn mit eine neuartigen Behandlung haben sich Ärzte zum Ziel gesetzt, den „Mülleimer“ der Krebszelle zu verstopfen. Jetzt hat sich gezeigt, dass dieser Ansatz offenbar in einigen Fällen Erfolg versprechend ist – bei aller Zurückhaltung, die immer geboten ist, wenn von neuen Medikamenten gegen Krebs die Rede ist.

Der „Mülleimer“ der Krebszelle und jeder gesunden Zelle ist das Proteasom, ein röhrenförmiger Eiweißkomplex. Im Proteasom werden alte, beschädigte Eiweißmoleküle zerlegt. Andere Proteine dagegen werden in dem molekularen Müllschlucker nicht zerhackt, sondern ganz im Gegenteil erst zum Leben erweckt. Zellwachstum, Teilung, Entzündungsprozesse – alles wird mit Hilfe des Eiweißzylinders gelenkt.

Wenn alle Zellen die winzigen Verdauungsröhrchen besitzen, wie kann dann ein Medikament helfen, das sie blockiert? Wird nicht mit dem Krebs auch gleich der Patient getötet? Diese Fragen mussten sich die Arznei-Designer der kleinen Biotechnik-Firma ProScript in Cambridge im US-Bundesstaat Massachusetts gefallen lassen. ProScript war 1995 auf eine Substanz gestoßen, die das Protein blockierte, und wollte sie zum Medikament weiterentwickeln.

PS-341, so der provisorische Name des Stoffes, hatte sich schon im Tierversuch als wirksam erwiesen. Die Firma setzte auf PS-341 – und ging pleite. 1999 kaufte Millenium Pharmaceuticals, ebenfalls im amerikanischen Cambridge zu Hause, ProScript auf. Und schließlich ging die Rechnung auf. Stolz berichteten Ärzte auf der Fachtagung der amerikanischen Gesellschaft für Blutkrankheiten in Philadelphia über Erfolge bei der Behandlung mit PS-341, das nun Bortezomib (Handelsname: „Velcade“) heißt. Es ist chemisch mit Borsäure verwandt.

Ärzte des Dana-Farber-Krebsinstituts präsentierten in Boston die Ergebnisse einer Studie an 202 Patienten mit unheilbarem Knochenmarkkrebs (Multiples Myelom). Die Kranken hatten bereits mehrere andere Behandlungen über sich ergehen lassen müssen und waren nun „austherapiert“. Umso überraschender, dass vier von zehn Patienten, 59 Prozent, auf „Velcade“ noch ansprachen. Bei 39 Prozent der Patienten bildete sich der Tumor unter der Therapie ganz oder teilweise zurück. Als Nebenwirkungen traten Schäden im Nervensystem, Störungen der Blutbildung und Übelkeit auf.

Ein Jahr gewonnen

Der Behandlungserfolg hielt bei einigen Patienten auch nach einem Jahr noch an, bei vielen hatte der Krebs allerdings auch schon wieder an Boden gewonnen. „Wir können unseren Patienten noch einmal ein Jahr geben“, schätzt Eckart Thiel, Krebsspezialist am Berliner Franklin-Klinikum. „Diese Substanzen sind keine Allheilmittel, aber wichtige neue Wirkstoffe. Besonders viel versprechen wir uns von einer Kombination mit einem herkömmlichen Krebsmedikament oder der Strahlentherapie.“ Thiel hofft, „Velcade“ im nächsten Jahr im Rahmen einer großen internationalen Studie erproben zu können. Noch ist das Mittel in Deutschland nur schwer zu bekommen.

Knochenmarkkrebs ist vergleichsweise selten. Aber die Proteasom-Blockade soll bei vielen verschiedenen Tumorarten helfen und wird in mehr als 30 Studien erprobt, zum Beispiel bei Brust-, Dickdarm-, Lungen- und Prostatakrebs.

Und wie genau wirkt das Mittel? „Die Krebszellen wollen sich teilen. Dann spritzt man das Medikament, und die Verdopplung wird verhindert. Darüber sind die Zellen so verzweifelt, dass sie Selbstmord begehen“, sagt der Berliner Proteasom-Forscher Peter-Michael Kloetzel von der Charité. „So jedenfalls erkläre ich es meinen Studenten.“

Das zelleigene Selbstmordprogramm

Apoptose heißt das zelleigene Suizidprogramm, das durch das Medikament aktiviert wird, und das normalerweise kranke und alte Zellen aus dem Verkehr zieht. Das Medikament löst das Selbstmordprogramm auf indirekte Weise aus. Denn das Proteasom aktiviert normalerweise ein bestimmtes Eiweiß namens Nf-kappa B, indem es den Vorläufer von NF-kappa B spaltet. NF-kappa B kurbelt das Wachstum der Zellen an und hemmt ihren Selbstmord.

Wird nun das Proteasom blockiert, kann auch NF-kappa B nicht mehr aktiv werden. Das Wachstum stoppt, und die Zelle wird zudem mit Proteinen verstopft, die sonst durch das Proteasom verdaut worden wären. Sie erstickt in ihrem eigenen Müll.

Gesunde Zellen können offenbar diesem Stress länger als kranke standhalten. Das ist der Grund dafür, dass die Therapie im allgemeinen recht gut vertragen wird. Die Ärzte versuchen, weniger als 80 Prozent der Proteasomen zu blockieren, damit die intakten Zellen eine Chance haben.

Das Medikament „Velcade" blockiert eines der drei Verdauungsenzyme im Innern des Proteasoms. An weiteren, ähnlich wirkenden Arzneien wird in vielen Labors gearbeitet. Dabei geht es vor allem darum, die Behandlung gezielter zu machen und zum Beispiel lebenswichtige Eiweißstoffe so zu beeinflussen, dass sie vom Proteasom nicht mehr erkannt und zerlegt werden (siehe Kasten). „Velcade" dagegen hemmt sehr ungenau den Abbau Hunderter Proteine.

Nicht nur bei Krebs setzen Ärzte auf die Proteasom-Blockade. Auch Krankheiten, die mit einer gestörten Immunabwehr zu tun haben (Aids, Multiple Sklerose, Schuppenflechte, Asthma, Rheuma) könnten unter Umständen gelindert werden: die Virusvermehrung würde erschwert, selbstzerstörerische Entzündungsprozesse gebremst. Auch bei Durchblutungsstörungen, etwa in Herz oder Hirn, kommt es nicht selten nach dem Infarkt zu einer überschießenden Reaktion der Körperabwehr, der mit Proteasom-Blockern zu begegnen wäre. Es wird sich zeigen, welche dieser weit gespannten Erwartungen die neue Behandlung erfüllen kann – und welche bloße Hoffnungen bleiben.

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