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Gesundheit: Kretische Kultur: Im Labyrinth des Minos

Namenlose Hobbyarchäologen graben nach Ruinen. Etablierte Altertumsforscher suchen dagegen nach Ideen.

Namenlose Hobbyarchäologen graben nach Ruinen. Etablierte Altertumsforscher suchen dagegen nach Ideen. Und Weltberühmte Archäologen finden einen Mythos. Im Frühjahr 1900 begann Arthur Evans mit Ausgrabungen an der Westseite des Ruinenhügels von Knossos auf Kreta. Der Engländer hatte unverschämtes Glück, denn schon nach 40 Zentimetern Erdreich stieß er auf einen Alabasterstuhl mit dazugehörigem "Thronsaal". Bisher kannte die Welt das antike Kreta nur aus griechischen Sagen. Stand Evans vor dem Thron des legendären König Minos, oder residierte hier Ariadne, die Frau mit dem Wollknäuel? Herrscher oder Herrscherin? Der britische Gentlemen entschied sich für den Sohn von Zeus und Europa. So erhielten Volk und Kultur der kretischen Bronzezeit ihren Namen.

Der "Palast von Knossos", den Evans mit 300 Helfern Schicht für Schicht freilegte, stammt aus der Blütezeit der minoischen Kultur (3100 - 1100 vor Christus), der ersten Hochkultur auf europäischem Boden. Eine Epoche, die scheinbar nur über extravagante Palastbauten, farbenprächtige Fresken und kunstvolle Keramik zu uns spricht, während ihre Herrscher und Götter namenlos, ihre Religion und Gesellschaftsform verborgen bleiben. Inzwischen wurden vier weitere "Paläste" entdeckt, die von städtischer Bebauung umschlossen sind. Doch aus dem Labyrinth des Minos gibt es kein Entrinnen. Minoische Siedlungsreste finden sich auf den Kykladen, im Nahen Osten, Kleinasien und Ägypten. Die Kreter trieben nicht nur Handel, sie beherrschten das östliche Mittelmeer. Doch ihre Kunst kennt keine kriegerischen Motive und ihre "Paläste" waren nicht befestigt. Auch von Hafenanlagen und einer großen Flotte fehlt bisher jede Spur.

Geschichtsdeutungen wie Ariadnefäden

Waren die geheimnisvollen "Paläste" nur Totenstädte und Götterwohnungen oder lebten dort Könige, Priester und hohe Beamte? Wurde das Land gar von Frauen beherrscht, die als Vertreterinnen der "Großen Mutter" auftraten? Und fiel diese Hochkultur tatsächlich einem Vulkan zum Opfer, der auf der 110 Kilometer entfernten Insel Santorin explodierte? Die Ausstellung "Im Labyrinth des Minos", die derzeit im Karlsruher Schloss zu sehen ist, versucht erst gar nicht, die unzähligen Ariadnefäden zu entwirren, die in den letzen 100 Jahren von klassischen Altertumsforschern, Völkerkundlern, Geologen, Kunsthistorikern und Vertretern der feministischen Archäologie gesponnen wurden. Sie beschreibt Kretas Landschaft, zelebriert die Kultur der "Paläste", beleuchtet die minoischen Handelsbeziehungen und kokettiert mit der Bildgewalt anmutiger Fresken. "Unsere Basis sind die archäologischen Funde", betont Projektleiter Michael Maaß. Und das sind Sarkophage, Statuetten, Schrifttafeln und Siegel, Vorrats- und Opfergefäße, wertvolle Goldketten und profane Kannen.

Das Badische Landesmuseum zeigt mit über 450 Exponaten die umfassendste Ausstellung minoischer Kunst und Lebensweise, die jemals außerhalb Griechenlands zu sehen war. Im Mittelpunkt steht der "Palast von Knossos", dessen Architektur für den Besucher inszeniert wurde: eine Säule, die sich nach unten verjüngt, eine Schautreppe, ein Magazin mit mannshohen Vorratsgefäßen, ein Thronsaal mit Wandmalereien. Doch erst vor dem Modell im Maßstab 1 zu 100 wird deutlich, warum dieser Palast vermutlich als Vorbild für das sagenumwobene Labyrinth des Minos diente. In mehreren Stockwerken verteilen sich viele kleine Räume um einen zentralen Innenhof. Dahinter steckt vermutlich ein multifunktionales Herrschaftszentrum, das in der Antike ohne Vorbild ist: "Königshof", Verwaltung, Handwerk, Kunst und Religion unter einem Dach.

Wie aus ihrer topographischen Lage hervorgeht, wurden die "Paläste" von Knossos, Phaistos, Galatas, Mallia und Kato Zakros nicht nach militärischen Gesichtspunkten angelegt. Vielmehr kontrollierten sie fruchtbare Landstriche, die durch Gebirgszüge voneinander getrennt sind. Möglicherweise gab es nicht nur ein "Königreich", sondern mehrere. Neben den großen "Palästen" fand man im ganzen Land Gebäude ohne Vorratsmagazine, die als "minoische Villen" bezeichnet werden. Sie waren ebenfalls von Siedlungen umgeben und dienten wohl kultisch-repräsentativen Zwecken.

Die zwei Jahrtausende minoischer Kultur lassen sich in eine Vor-, Alt-, Neu-, und Nachpalastzeit gliedern, wobei die Natur als Taktgeber fungiert. Die südliche Ägäis war damals seismisch aktiver als heute. Die Menschen mussten also ständig mit Erdbeben rechnen. Schwere Naturkatastrophen markieren das Ende der Altpalastzeit (um 1700 vor Christus) sowie das große Palaststerben um 1430, dem die Nachpalastzeit folgt. Früher hatte man den Beginn des griechisch-mykenischen Einflusses auf Kreta, der sich von 1520 an abzeichnet, gerne mit dem Vulkanausbruch auf Santorin in Zusammenhang gebracht.

Inzwischen liegen jedoch Klimauntersuchungen vor, die das Naturereignis auf 1628 vor Christus datieren. Die Theorie, nach der eine riesige Flutwelle die minoische Flotte vernichtet und die Kreter mit einem Schlag ihrer militärischen und wirtschaftlichen Macht beraubt hat, war zwar sehr anschaulich, vermutlich ging die erste europäische Hochkultur aber an ihren inneren Konflikten zugrunde.

Wie mächtig die Minoer einst waren, verrät die Sage. Alljährlich musste Athen sieben Jungen und Mädchen dem menschenfressenden Minotauros opfern. Offensichtlich war die Stierkultinsel nicht nur ein Hort weltoffenen Handels und schöngeistiger Kunst. Die Sage lässt vermuten, dass die Griechen den Kretern Tribut zahlen mussten. Erst Theseus befreite die Athener von ihrem Joch. Dabei half ihm ausgerechnet Ariadne, die Tochter des kretischen Herrschers.

Kreta mit seinen über 2000 Meter hohen Bergen und seinem extremen Klima ist gewiss kein Paradies. Dennoch überliefert uns die minoische Kunst eine harmonische Kulturlandschaft, in der Pflanzen, Tiere und Menschen ihren Platz haben. Dabei orientierten sich die Freskenmaler allerdings nicht an der natürlichen Farbpalette: Blaue Affen und rote Pflanzen widersprechen jedem Naturalismus. Sie folgen vielmehr einer verborgenen Symbolik, die vermuten lässt, dass die minoische Natur von Göttern durchdrungen war. Einzigartig unter den antiken Hochkulturen ist die Art und Weise, wie sich die Minoer selbst darstellten. Sie geben sich jung, schlank und sportlich. Familien, Ehepaare oder alte Menschen gibt es nicht. Die Männer strotzen vor Kraft und Eleganz. Selbst hohe Würdenträger sind unter ihrer Wespentaille nur mit einem knappen Lendenschutz bekleidet.

Auch die weibliche Hoftracht überrascht mit demonstrativer Nacktheit: Die Frauen tragen einen reich verzierten Volantrock mit offenem, boleroartigen Jäckchen, das die Brüste freilässt. Besonders die selbstbewusste Darstellung des Weiblichen nährte die Vorstellung einer matriarchalischen Gesellschaftsordnung ohne Krieg und Gewalt. Doch die Schriftquellen schweigen. Sehr viel wahrscheinlicher und für die antike Welt ebenso revolutionär, wäre eine gleichberechtigte Rollenverteilung: Frauen und Männer hatten offenbar wichtige Aufgaben in Religion und Gesellschaft, und sie beteten zu unterschiedlichen Göttern. Wer jedoch in letzter Instanz die Regeln des Zusammenlebens bestimmte, lässt sich archäologisch nicht mehr nachweisen. "Eine Antwort kann nur die Sage geben", meint Professor Maaß. Und die spricht von König Minos.

Mathias Orgeldinger

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