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Gesundheit: Künstliches Erinnern

Kunststoffe mit Gedächtnis nehmen wieder die frühere Gestalt an – Einsatz als medizinische Implantate möglich

Wie oft kommt es vor. Beim Einparken wird ein Pfosten übersehen und schon ist die Karosserie eingebeult. Die Delle wird einiges kosten! Doch Hoffnung ist in Sicht. Vielleicht wird man die Reparatur bald im Do-it-yourself-Verfahren erledigen können. Nein, nicht mit dem Hammer, mit dem Fön. Vorausgesetzt, die Karosserie ist aus Plastik. Denn Forscher arbeiten an Kunststoffen, die sich nach einer Verformung an ihre alte, unversehrte Gestalt erinnern können.

Mit Kunststoffen, die ein Gedächtnis haben, experimentiert das Team um den Chemiker Andreas Lendlein am GKSS Forschungszentrum in Teltow. „Gedächtnispolymere“ nennt sie Lendlein, der auch an der Universität Potsdam lehrt. Er hatte sie erstmals bereits während eines Aufenthalts am Massachussetts Institute of Technology (MIT) beim Materialwissenschaftler Robert Langer hergestellt. Jetzt ist dies ein Schwerpunkte am Institut für Chemie in Teltow.

Teltower Kunststoff

Zuerst muss den Polymeren beigebracht werden, an was sie sich erinnern sollen, erklärt Chemiker Steffen Kelch, Mitarbeiter Lendleins und Coautor eines Artikels in der Fachzeitschrift „Angewandte Chemie“ (Band 114, S. 2138-2162).

Das Material ist so konstruiert, dass es bei einer bestimmten Temperatur einen „Phasenübergang“ hat, der mit einer Formänderung verbunden ist. Phasenübergänge gibt es bei vielen anorganischen und organischen Materialien. Das Besondere am „Teltower Kunststoff“ ist, dass man ihm beibringen kann, welche Gestalt er vor und nach der „Sprungtemperatur“ einnehmen soll.

Das ist in etwa wie die Dressur eines Hundes, der sich im Restaurant immer unterm Tisch lang machen muss. Dies ist sein „programmierter Zustand“, den er auf einen bestimmten Befehl hin einnimmt.

Bei den Gedächtnispolymeren ist das Kommando die Übergangstemperatur. Die Formen, die der Kunststoff vorher und nachher einnimmt, obliegen der Kunst der Chemiker. Als Schalter dienen Polymerketten, die oberhalb einer bestimmten Temperatur beweglich werden. Unterhalb dieser Grenze ist ihre Beweglichkeit eingeschränkt.

Dem Polymer wird also beigebracht, welche Form es unterhalb der Übergangstemperatur haben soll, beispielsweise: klein und rund. Beim Aufheizen setzt die „Erinnerung“ des Materials ein, so dass es in seine eigentliche Form zurückkehrt, lang und dünn etwa.

Die Forscher setzen die gedächtnisstarken Polymere aus verschiedenen Bausteinen zusammen. Durch geschickte Auswahl will man die Eigenschaften gezielt einstellen. Bei welcher Temperatur soll sich die Form ändern, wie soll die mechanische Belastbarkeit sein? Die Schalttemperaturen heutiger Gedächtnispolymere liegen etwa zwischen minus 45 und plus 120 Grad Celsius. Die Kunst besteht darin, die verschiedenen Komponenten so auszuwählen, dass sie eigentlich nicht zusammenpassen, sagt Kelch.

„Wie zerstrittene Verwandte, die zwangsweise verheiratet werden.“ Natürlich geht die Sache schief, die Scheidung ist absehbar. Dasselbe passiert den manipulierten chemischen Kumpanen. Sie entmischen sich und bilden in dem Kunststoff kleine Inseln aus, die entweder für Elastizität oder für mechanische Stabilität sorgen.

Das Gedächtnistraining für die Kunststoffe ist jedoch nicht nur L´art pour l´art. Die verwendeten chemischen Bausteine und das Polymer sind biokompatibel, das heißt, sie können im menschlichen Körper abgebaut werden. Damit eigneten sich die maßgeschneiderten Gedächtnispolymere als Implantate, um beispielsweise große Operationswunden zu stabilisieren und so vorübergehend den Gewebsverlust auszugleichen. Abbaubare Polymere, die sich aber nicht verformen können, werden bereits seit Jahrzehnten als Implantate eingesetzt. So gibt es Nähte aus Kunststoff, die sich nach einiger Zeit im Körper auflösen.

„Der Bedarf an neuen Materialien für abbaubare Implantate ist groß“, sagt Kelch. Denn je nach medizinischem Zweck sind andere Eigenschaften gefragt. Wie schnell soll das Implantat abgebaut werden, welche Stabilität oder Elastizität soll es haben? Das sind einige der Kriterien. Hier können die im Baukastensystem zusammengesetzten Polymere ihre große Stärke ausspielen. Durch kleine Änderungen der Zusammensetzung kann man eine große Palette an Eigenschaften erzeugen.

Besondere Vorteile verspricht man sich vom Einsatz der Formgedächtnis-Materialien in der minimalinvasiven Medizin. In komprimierter Gestalt lassen sich die Implantate auch in kleine Schnittöffnungen einführen. Nach Erwärmung auf die Körpertemperatur nehmen sie ihre gespeicherte Form wieder ein. Sie wachsen auf die Größe, die für den medizinischen Zweck notwendig ist.

Beispielsweise können sie sich aufblähen, um eine verstopfte Arterie offen zu halten oder eine Körperhöhle zu füllen, die nach einer Tumoroperation entstanden ist. Sogar die Zeit, nach der das Implantat abgebaut werden soll, kann bei der Konstruktion des Gedächtnispolymers eingestellt werden. Eine erneute Operation zur Entfernung des Implantats ist dann überflüssig.

Mit ihrem Potenzial übertreffen die Teltower Polymere auch metallische Gedächtnisimplantate. „Nitinol“ etwa, das aus einer Nickel-Titan-Legierung besteht, dient ebenfalls als Gefäßstütze, um verengte Herzkranzgefäße zu dehnen. Auch Kieferorthopäden benutzen den Draht gerne. Allerdings ist die Formänderung auf weniger als ein Zehntel der Ausgangsgröße beschränkt.

Anpassung direkt im OP

Die Polymersysteme dagegen können um mehr als das Zehnfache schrumpfen oder wachsen. Zudem sei die Programmierung viel weniger aufwändig als bei den Legierungen. „Formgedächtnispolymere lassen sich so schnell programmieren, dass sogar die individuelle Anpassung im Operationssaal vorstellbar ist“, sagt Kelch. Das alles läuft bei moderaten Temperaturen ab, während die Metalle zur Programmierung mehrere hundert Grad benötigen. Nachdem die Gedächtnispolymere mittlerweile im Kilogramm-Maßstab hergestellt werden können, sind schon intensive Tests angelaufen. Bei Versuchen mit Ratten haben sich die verformbaren Implantate bewährt.

Die Teltower Kunststoffbastler denken aber auch an Anwendungen außerhalb der Medizin. So könnten sich die erinnerungsstarken Kunststoffe als Schalter für Sensoren oder als anpassungsfähiges Verpackungsmaterial eignen. Oder für verbeulte Autokarosserien: Fön genügt.

Paul Janositz

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