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Gesundheit: Kunstfehler: Mut zur Wahrheit

Chirurgen diskutieren, wie man aus Versagen im Operationssaal die richtigen Lehren zieht – zum Wohle künftiger Patienten

„Chirurgische Unglücke, verschuldete und unverschuldete, gibt es so viele, dass man kaum weiß, wo man das Aufzählen anfangen und enden soll“, stellte 1888 der Münchner Chirurg Johann Nepomuk von Nussbaum fest. Leider aber, so gab der Professor zu bedenken, führe „menschliche Eitelkeit“ dazu, dass „fast nur glückliche Ereignisse veröffentlicht und alle Unglücke verschwiegen werden, obwohl ein Unglück mehr lernen lässt als zehn glückliche Fälle“.

Auch 115 Jahre später ist Nussbaums Beobachtung aktuell. Neben der von ihm beobachteten Eitelkeit seiner Zunft leisten heute aber auch die Gesetze der wissenschaftlichen Berichterstattung einer systematischen Verzerrung der Erfolgsbilanzen Vorschub.

In den führenden Fachzeitschriften wird meist bevorzugt über die Erfolge bestimmter neuer Behandlungsmethoden berichtet. Die Studien mit weniger ermutigendem Ausgang bleiben oft in kleineren Zeitschriften „hängen“. Mehr noch: Durch Mehrfachpublikation erscheinen manche Behandlungserfolge, die der Fachwelt in Häppchen serviert werden, noch eindrucksvoller. Das erläuterte Ynge Falck-Ytter vom deutschen Cochrane-Zentrum in Freiburg, wo wissenschaftliche Studien systematisch gesammelt und ausgewertet werden, auf dem Symposium „Aktuelle Chirurgie“ im Klinikum Benjamin Franklin der Charité.

Das Treffen, zu dem mehr als 500 Mediziner und Pflegekräfte aus Deutschland kamen, widmete sich diesmal ganz bewusst der Aufgabe, aus Fehlern zu lernen. Heute sind es immer öfter Patienten und deren Angehörige, die die Ärzte mit „Behandlungsvorwürfen“ (so der juristische Fachausdruck) konfrontieren. Etwa ein Drittel von ihnen werden schließlich von Schlichtungsstellen oder Gerichten als Behandlungsfehler der Ärzte anerkannt.

Verständlicherweise werden viele dieser Kunstfehler-Vorwürfe nach Operationen erhoben. „Ein Fehler bei einer Operation ist leichter zu erkennen“, sagte der Chirurg Christoph Germer von der Charité, Campus Franklin.

Germer forderte eine „konstruktive Kultur im Umgang mit Fehlern“. Sie zeigt sich zum Beispiel in der Einrichtung der „M & M“- Konferenzen, für die Stefan Post vom Klinikum Mannheim plädierte. Auf solchen regelmäßigen Treffen der behandelnden Ärzte stehen die unerwünschten Ereignisse auf der Tagesordnung: nicht nur Todesfälle (Mortalität) und Folgekrankheiten (Morbidität), sondern auch die Analyse von Abläufen, die zu wünschen übrig ließen, obwohl sie glücklicherweise keine gefährlichen Folgen hatten.

Auch der Chef macht Fehler

„Auch die Komplikationen, die die Chefs verursacht haben, dürfen auf solchen Konferenzen kein Tabu sein“, forderte Post. Eine solche aktuelle Stunde gebe es in seiner Einrichtung jeden Dienstag, erzählte Hans Joachim Buhr, Chrirurg am Franklin-Klinikum. Themen sind dort zum Beispiel gefährliche Krankheitskeime, aber auch Fragen wie: Hätten wir schneller eingreifen müssen? Oder: Haben wir zu lange mit der Operation gezögert?

Ein Fehler in der Chirurgie – das ist nur in den seltensten Fällen die berühmte Schere, die in der Bauchhöhle „vergessen“ wurde. In vielen Fällen liegt er, für den Laien weniger durchschaubar, schon in der Entscheidung für eine bestimmte Methode der Behandlung.

So ist noch strittig, ob Vorformen von Speiseröhrenkrebs auch ohne eigentliche Operation während einer Untersuchung per Sonde abgetragen werden können. Dann muss auf jeden Fall immer wieder ganz genau nachuntersucht werden, um eine echte Krebsentstehung zu vermeiden. Umgekehrt muss etwa bei Magenkrebs überlegt werden, ob eine Operation sinnvoll ist, wenn sich schon Tochtergeschwülste an anderen Stellen gebildet haben. Oder ob man einen Tumor in der Leber entfernen darf, wenn das restliche Gewebe durch eine Zirrhose (Leberschrumpfung) in seiner Funktion eingeschränkt ist, denn dann kann es zum Leberversagen kommen. „Wir müssen die Möglichkeit von Komplikationen immer in unsere Überlegungen einbeziehen“, sagt Germer.

Die Komplikationen bei und nach Operationen sind bei weitem nicht immer „hausgemacht“. Neben tatsächlichen Fehlern der Ärzte sind heute andere Erkrankungen der Operierten und Nebenwirkungen der deswegen nötigen Behandlungen zur wichtigen Größe geworden. Denn zunehmend werden sehr alte und mehrfach kranke Menschen operiert. Hier kommen die Kollegen aus anderen Fachgebieten ins Spiel, deren Rat der Chirurg zuvor einholen muss: Kann man es wagen, einen älteren Patienten, der schon mehrere Herzinfarkte durchgemacht hat, dessen Niere nicht mehr richtig arbeitet und der unter Diabetes leidet, dem Risiko des Eingriffs auszusetzen?

Im Notfall gibt es keine andere Wahl. Doch wenn die Operation von langer Hand geplant ist, sollten auch die Narkoseärzte so früh wie möglich einbezogen werden, sagte Christoph Stein, Anästhesist am Franklin-Klinikum. Wenn das einige Wochen vorher ist, bleibt nötigenfalls sogar noch Zeit für einen medikamentös unterstützten Alkohol-Entzug und den Abschied von den Zigaretten. Beides senkt das Risiko bei Operationen deutlich.

Mangelnde Aufklärung über die Risiken einer Operation ist einer der häufigsten anerkannten Behandlungsfehler. Verhängnisvoll wirken sich aber auch schlechte Teamarbeit, das Fehlen von Leitlinien, nach denen sich alle Beteiligten verbindlich richten können, und eine lückenhafte Dokumentation des Geschehens aus. In den USA, so berichtet Buhr, wurden an den Universitäten eigene medizinische Lehrstühle für Fehleranalyse eingerichtet. Fehler machen eben leider nicht automatisch klug: Das gelingt nur, wenn man sie sieht und versteht.

Adelheid Müller-Lissner

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