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Gesundheit: Lauter fremde Gesichter

In Deutschland leiden zwei Millionen Menschen an Gesichtsblindheit – einer Erbkrankheit, wie jetzt entdeckt wurde

Im Supermarkt nahm das eineinhalbjährige Mädchen fremde Menschen an die Hand, weil sie sie mit ihren Eltern verwechselte. Im Kindergarten spielte Karen Berg (Name geändert) nicht mit Gleichaltrigen und fixierte sich auf eine Betreuerin. Beim Sprechen sah sie dem Gegenüber nicht ins Gesicht. Die Eltern waren verzweifelt.

„Kein Arzt oder Psychologe konnte uns helfen, alle vermuteten, unsere Tochter sei autistisch“, sagt Vera Berg. Doch das konnte nicht stimmen, da Karen bis heute, mit neun Jahren, ohne Scheu Kontakt zu fremden Menschen knüpft. Erst durch Zufall hörte die Familie von den Forschungen zur Gesichtsblindheit an der Universität Münster.

Im dortigen Institut für Humangenetik unterzogen sich Mutter und Tochter einem Test. Dieser bestätigte den Verdacht der Gesichtsblindheit und brachte gleich noch eine Überraschung. Auch die Mutter ist von der Störung betroffen. Anders als ihre Tochter hatte sich die Erwachsene besser mit diesem Zustand arrangiert.

Ihr erschien es normal, Menschen nicht gleich zu erkennen. Auch ihr Mann gewöhnte sich daran, ordnete die Unsicherheiten seiner Frau als lustige Schusseligkeiten ein und fragte nie weiter nach. Die Wahrnehmungsschwierigkeiten wurden mit der Zeit dadurch gemildert, dass Vera Berg unbewusst gelernt hatte, sich bei allen Begegnungen mit Menschen andere Erkennungsmerkmale als das Gesicht zu merken – Körpersprache, Gestik, Stimme.

Doch es gibt auch beängstigende Situationen. „Schlimm ist es, wenn ich beispielsweise auf einer Kirmes bin und die Gruppe, mit der ich gekommen bin, plötzlich weg zu sein scheint. In Wirklichkeit habe ich meine Freunde aber nur kurz aus den Augen verloren und erkenne sie nicht wieder – das löst schon panische Gefühle aus.“

Für die Ärztin Martina Grüter, die ihre Doktorarbeit am Institut für Humangenetik über diese genetische Störung geschrieben hat, sind solche Aussagen nichts Neues. Ausgelöst durch die Erfahrungen mit der Gesichtsblindheit ihres Mannes, Thomas Grüter, der auch Arzt ist , fing sie vor vier Jahren an, sich für die Störung zu interessieren, die Mediziner „Prosopagnosie“ nennen. Sie begann mit der Suche im Internet und wurde schnell fündig: „Schon bald stieß ich auf eine Reihe von Familien, in denen sich Gesichtsblindheit häufte.“

Bei einer Befragung von rund tausend Schülern und Studierenden in Münster wiesen fast zwei Prozent der Probanden diese Störung auf. Hochgerechnet auf ganz Deutschland, sind das bis zu zwei Millionen Betroffene. Trotz dieser relativ großen Zahl erregte das Phänomen bisher wenig wissenschaftliches Interesse. Bisher gibt es nur wenige Publikationen über die vererbte Variante dieses Phänomens.

Diese Lücke beginnen die Münsteraner Humangenetiker zu füllen. Nach Aussagen des Institutsleiters Ingo Kennerknecht ist man dort mit den Forschungen zur erblich bedingten Gesichtsblindheit weltweit führend. Internationale Kooperation und fächerübergreifende Einbeziehung von Neurologen, Radiologen und Psychologen wird angestrebt.

Mittlerweile nehmen immer mehr Betroffene – auch über das Internet – mit der Ärztin Grüter Kontakt auf. „Aktuell untersuche ich bereits 40 Familienstammbäume, um die These weiter zu erhärten, dass es eine von Geburt an ererbte Gesichtsblindheit gibt“, erklärt sie. In der Familie ihres „gesichtsblinden“ Mannes sind gleich fünf Personen in drei Generationen davon betroffen.

Auch Thomas Grüter musste lernen, Menschen an anderen Schlüsselmerkmalen außerhalb des Gesichts zu erkennen. „Ich orientiere mich an der Stimme und speichere die Mimik oder die charakteristischen Bewegungen. Das Gesicht allein ist für mich nichtssagend, erzählt der Mediziner. Zur Orientierung haben die Eheleute spezielle Strategien entwickelt. Beispielsweise die Absprache, auf Messen oder anderen Großveranstaltungen jeweils zur halben und vollen Stunde zu den Eingangstüren zu gehen – immer dann, wenn sie sich aus den Augen verloren haben.

Die Erkenntnisse aus dem Institut für Humangenetik sollten nach Meinung der Grüters auch an Kinderärzte und Schulpsychologen weitergegeben werden. Denn kleine Patienten stehen der Wahrnehmungsstörung besonders hilflos gegenüber. Sie erleiden oft gravierende soziale Nachteile in Schule oder Kindergarten.

So erinnert sich Vera Berg daran, dass ihre Tochter in der Schule zunächst zur unfreundlichen Außenseiterin abgestempelt wurde. Denn Karen schaute ihren Klassenkameraden relativ selten ins Gesicht – es war ja für sie nicht wichtig. Bis der Mutter das Manko auffiel. „Schau andere beim Sprechen an“, riet sie der Tochter. Damit das Kind sich später besser an Gesprächspartner und Spielkameraden erinnern könnte, sollte sich die Kleine Frisur und Haarfarbe merken. Und immer nach dem Namen fragen.

Auch Expertin Grüter hat Tipps für Eltern betroffener Kinder. Sie sollten Fotos machen, auf denen ihre Kameraden als ganze Person abgebildet sind, und die Namen darunter schreiben. Das helfe beim Erinnern im täglichen Umgang. Sinnvoll wäre auch eine entsprechende Pinnwand in Schule oder Kindergarten.

Mehr im Internet:

www.prosopagnosie.de

Bernd Rasche

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