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Gesundheit: Lernen für das Leben in einer Demokratie Allgemeinbildung heißt, den Schülern Handlungskompetenz zu vermitteln

Von Jürgen Schneider

Braucht die deutsche Schule wieder einen verbindlichen Kanon der Allgemeinbildung? Der Vizepräsident der HumboldtUniversität und Professor für historische Erziehungswissenschaften, Heinz-Elmar Tenorth, hat sich im Tagesspiegel vom 8. August 2003 dafür ausgesprochen, „Big Ideas“ zu vermitteln.

Heinz-Elmar Tenorth schlägt vor, sich auf die Bildungsphilosophen des frühen 19. Jahrhunderts zu besinnen, auf Herder und Humboldt. Ihr Bildungskanon könne heute noch Gültigkeit beanspruchen. Dem kann man insoweit zustimmen, als Herder und Humboldt unter „Bildung“ geistige Fähigkeiten verstanden haben und keine Ansammlung von unverbundenem Faktenwissen. Wissen sollte der Bildung dienen, zum Zweck der geistigen und seelischen Entwicklung.

Tut es das heute? Hoffentlich mehr als vor 30 Jahren. 1968 hat in den Schulen positive Folgen gehabt, und das Stoffpauken mag abgenommen haben. Aber genug? Sicher nicht, und das liegt nicht einfach an den Lehrern, sondern an der Schulorganisation. Wie uns durch Pisa erneut vor Augen geführt wurde, ist das deutsche Schulsystem nicht dem Prinzip der individuellen Förderung aller Schüler verpflichtet – wie etwa die skandinavischen Schulen –, sondern dem Prinzip der Auslese, und zwar in einem international einmaligen Ausmaß. Das Prüfungsunwesen erlebt gerade eine neue Blüte.

Das wirft den Unterricht immer wieder auf das Stofflernen zurück, denn nur Faktenwissen lässt sich scheinbar objektiv vergleichen, nicht aber der individuelle Bildungszuwachs. Ein Mathematiklehrer kann die Anzahl richtig gelöster Aufgaben zählen, aber nicht, ob der Schüler in seinem wirklichen Leben von zweckmäßigen mathematischen Mitteln richtigen Gebrauch macht. Doch darauf müsste es der Bildung ankommen!

Das eigentliche Problem der heutigen Allgemeinbildung liegt freilich darin, dass sich das demokratische Deutschland vom Preußen Herders und Humboldts gründlich unterscheidet, ohne dass der schulische Unterricht den gesellschaftlichen Entwicklungen ausreichend Rechnung getragen hätte. In der Demokratie werden die Bildungsziele vom Parlament beschlossen und finden sich in den Schulgesetzen. Diese verlangen zwar die Förderung von persönlichen Fähigkeiten, aber nicht von „rein geistigen“, sondern von Handlungskompetenzen für das Leben in der demokratischen Gesellschaft. Die Schule hat diese Anforderungen bisher nur zögerlich akzeptiert. In Präambeln von Lehrplänen werden sie aufgegriffen, um dann meist anstandslos in reine Fachkompetenzen des jeweiligen Unterrichtsgebiets zu münden. Demgegenüber gilt es, Schule und Unterricht lebensverbunden zu gestalten und die Schüler zu motivieren, die Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Handeln kann man nicht abstrakt lernen, sondern nur durch Handeln; Schulwissen für das Erkennen der jeweiligen Situation und für angemessenes Eingreifen zu nutzen, entspricht Herders und Humboldts Forderungen in einer zeitgemäßen Form.

Entsprechende Bildungsmodelle gibt es zwar, die Regelschule macht aber bisher nur zaghaft von ihnen Gebrauch. Zum Beispiel werden in Schulversuchen zum Produktiven Lernen in Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt die Schüler im „wirklichen Leben“ aktiv, und zwar nach ihren individuellen Interessen. Beim Tischler brauchen sie Geometrie und Physik, in der Apotheke Biologie und Chemie. Und plötzlich sind Schülerinnen und Schüler, die als schulmüde abqualifiziert werden, sehr motiviert, sich das jeweils nötige Fachwissen anzueignen. Und gleichzeitig wird das neue Berliner Schulgesetz wörtlich eingelöst: Die Schule solle Schüler so fördern, dass sie „aktiv und verantwortlich am sozialen, gesellschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen und beruflichen Leben teilnehmen können“.

Der Autor ist Professor für Schulpädagogik an der Alice-Salomon-Fachhochschule und Co-Direktor des Instituts für Produktives Lernen in Europa (IPLE).

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