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Gesundheit: Lernen setzt Bereitschaft zur Anstrengung voraus - Gerhart Neuners neues Buch

Was ist Allgemeinbildung heute? Diese Frage zu beantworten, ist für Pädagogen immer schwieriger geworden, seitdem die Bildungsgewissheiten, die noch um 1900 relativ klar erschienen, durch die Explosion des Wissens und immer neue Erkenntnisse über die Entwicklung von Intelligenz und Lernen geschwunden sind.

Was ist Allgemeinbildung heute? Diese Frage zu beantworten, ist für Pädagogen immer schwieriger geworden, seitdem die Bildungsgewissheiten, die noch um 1900 relativ klar erschienen, durch die Explosion des Wissens und immer neue Erkenntnisse über die Entwicklung von Intelligenz und Lernen geschwunden sind.

Noch zu Zeiten der deutschen Spaltung hat der Autor dieses Artikels versucht, mit führenden Pädagogen in der DDR in den Dialog über die Frage der Allgemeinbildung an den Schulen zu treten. Gerhart Neuner, Präsident der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften in der DDR von 1970 bis 1989, war zu diesem Dialog bereit. Neuner hat sich stets mit der Allgemeinbildung befasst. Sieht man einmal von dem Problem der ideologischen Überlagerungen ab, was nicht ganz leicht ist, dann blieb sein Bemühen unübersehbar, den allgemeinen Charakter von Bildung zu bewahren. In seiner sehr umfangreichen Bibliographie sind dem Thema zahlreiche Aufsätze und Bücher gewidmet.

Nun hat er nach seinem Lebensrückblick (1996) ein neues Buch vorgelegt: "Ressource Allgemeinbildung". In dem Buch lässt er nicht nur die Entwicklung der Allgemeinbildung seit Humboldt Revue passieren, sondern auch Querschnittsübersichten über den Stand der Stundentafeln in einzelnen Staaten, nicht nur europäischen. Im Mittelpunkt steht jedoch die Entwicklung in der alten Bundesrepublik und in der DDR. Es handelt sich also um ein mehrschichtiges Vorhaben, wobei es auch um eine kritische Würdigung von Schieflagen geht, insbesondere die hochideologischen Vorgaben in der DDR und den Einfluss "linker" Erziehungswissenschaft auf die Bildungspolitik im Westen.

Es ist ein Kompendium entstanden, das sich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil der deskriptiven Methode bedient und dabei dem Ouantitativen den Vorrang einräumt. Dies erweist sich bald insofern als Problem, als ja weder etwas über die Stoffmenge noch über die Qualität der ausgewählten Inhalte oder über die Art der Vermittlung ausgesagt wird.

Wenn es Neuner zum Beispiel als Vorzug ansieht, dass die DDR-Schule stets die Literatur der Klassik sowie großer Autoren wie Thomas Mann und Heinrich Mann oder Fontane im Kanon der Allgmeinbildung fest verankert hatte, stellt sich die Frage: Aber wie hat man sie interpretiert? Auf der anderen Seite ist die Kritik an der Relativierung der Bildungsinhalte seit Ende der 60er Jahre in der alten Bundesrepublik, vor allem an der Neuorientierung der Literaturauswahl, nur allzu berechtigt.

Durchaus bedenkenswert ist auch die Kritik Neuners an der Diskriminierung des Leistungsgedankens, wie ihn die neuere Erziehungswissenschaft zugunsten eines stets lebensnahen und erlebnisorientierten Unterrichts vertritt. Die Forderung, Lernen müsse Spaß machen, sei nicht erfüllbar. Lernen, sagt Neuner, setze Anstrengungsbereitschaft voraus. In diesem Zusammenhang fördere die Transformierung des Fachunterrichts in die Erörterung von Schlüsselproblemen eher ungenaues Wissen und Können. So könne das nötige "solide" Kern- oder Grundwissen nicht angelegt werden: als Ressource, als Schatz und Reserve.

Das Wort "solide" taucht in diesem Zusammenhang immer wieder auf, wie das auch in den 80er Jahren in der DDR der Fall war. Inhaltlich diskutierte man übrigens in der alten Bundesrepublik in ähnlicher Weise über das nötige gründliche Wissen und Können und plädierte für nachhaltigeres Üben.

Nach Neuner gehören "zur vollen Ausprägung der Leistungsfähigkeit der jugendlichen Persönlichkeit ... die solide Beherrschung des Kerncurriculums und spezifische, individuell differenzierte Kenntnisse und Fähigkeiten sowie das Bewusstsein eigener Stärken und Begabungen". Deshalb fordert er auch, das Curriculum müsse sich auf ein "breites Spektrum von Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften, auf Mathematik, ästhetische Erziehung, aber auch auf Arbeitslehre und Wirtschaftserziehung konzentrieren".

Damit ist der in der Welt weitgehend übereinstimmende Kern-Standard beschrieben, der allein die kulturelle Identität sichern könne. Doch handelt es sich dabei wieder um das alte Problem, dass schon allein der "Kern", auf den man sich in der Schule konzentrieren muss, jedes Curriculum zu sprengen droht.

Neuner tendiert dazu, die Leistungen der DDR-Schule, für die er ja mitverantwortlich war, zu positiv zu bewerten und die zum Teil sehr starke ideologische "Unterfütterung" dabei zu wenig zu berücksichtigen. Andererseits legt er strenge Maßstäbe an die Leistungsfähigkeit des Schulwesens in der alten Bundesrepublik. Reformpädagogischen Vorstellungen kann er nur wenig abgewinnen. In der Schule ginge es, so wird er nicht müde zu betonen, allein darum, den Schülern eine umfassende und solide Grundbildung zu vermitteln. Das bedinge, dass die Gegenstände sicher erarbeitet und schließlich verarbeitet werden. Daraus erwächst Bildung und die damit verbundene Orientierungsfähigkeit.

Neuner leugnet seine Herkunft und seine Vergangenheit auch nicht, wenn er seine Neigung zu zentralistischen Lösungen gesteht. Dabei ist doch gerade auch die Schulpolitik der DDR ein abschreckendes Beispiel dafür. Und wenn er den Kulturföderalismus wegen der Gefahr der Zerfransung tadelt, übersieht er, dass bei allen (gewollten) Unterschieden eben doch ein über das Minimum hinausgehender Konsens besteht, auch bezüglich der Oberstufenreform, gegen die er besonders gern zu Felde zieht.

Das Buch bietet - gerade auch durch die subjektive Filterung der Ost-West-Erfahrungen - einen guten Diskussionsansatz, um mit dem so schwer lenkbaren "Schiff" Allgemeinbildung über die Untiefen falscher oder überzogener bildungspolitischer Ansätze in der Vergangenheit hinwegzukommen. Bildung ist eine Ressource, die nicht als Reserve, als vorhandenes Gut schon vorhanden ist und nur einer Förderung bedarf. Bildung muss immer erst gleichsam als Schatz angelegt werden, und zwar durch lebenslanges Lernen, ehe der einzelne und die Gesellschaft davon zehren können.Gerhart Neuner: Ressource Allgemeinbildung? Neue Aktualität eines alten Themas. Deutscher Studien Verlag, 1999. ISBN 3892718725.

Joachim Schiller

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