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Gesundheit: Letzter Ausweg

Unheilbar Kranke verweigern nicht selten Essen und Trinken – um über ihr Sterben selbst zu bestimmen

Die 43-jährige Frau litt seit Jahren unter Amyotropher Lateralsklerose, einem unaufhaltsamen Nervenleiden. Sie war seit längerem ans Bett gefesselt. In der Endphase des unheilbaren Leidens beschloss sie, nicht mehr zu essen und zu trinken. Das geschah sehr bewusst: Zuvor hatte sie mit Hilfe von Freunden noch zahlreiche Geschenke und Briefe für die kommenden Geburtstage ihrer Tochter vorbereitet. Der Entschluss habe seiner Frau Frieden gegeben, sagte später ihr Ehemann. Nach zwei Wochen ohne Nahrung und Flüssigkeit starb sie.

Wenn todkranke Menschen beschließen, in einen solchen Hunger- und Durst-„Streik“ zu treten, ist das nicht nur für die Angehörigen, sondern auch für Ärzte und Pflegende oft zunächst eine schwierige Situation. „Man fühlt sich als eine Art Komplize, wenn man dem zustimmt“, äußert ein praktischer Arzt aus den USA im „New England Journal of Medicine“.

In dieser Ärztezeitschrift wurde jetzt eine ungewöhnliche Studie veröffentlicht (Band 349, Seiten 325 und 359). Ärzte und Gesundheitsforscher aus Oregon gingen der Frage nach, welche Erfahrung Pflegekräfte mit dem Entschluss von todkranken Pflegebedürftigen hatten, nicht mehr zu essen und zu trinken. Die Forscher schickten einen Fragebogen an alle Pflegekräfte, die zu diesem Zeitpunkt im Bundeststaat Oregon in Hospizeinrichtungen tätig waren. Hauptfrage: Hatten Sie in den letzten vier Jahren Patienten, die an einer unheilbaren Krankheit litten und beschlossen, nicht mehr essen und trinken zu wollen?

Ein Drittel der Pflegekräfte, die dem Team antworteten, hatten solche Patienten betreut. Alle Patienten waren nach Einschätzung der Interviewten zum Zeitpunkt ihres Entschlusses bereit zu sterben, fast alle empfanden ihre Lebensqualität als zu gering und ein Weiterleben als sinnlos. Sie hatten Angst, die Kontrolle über weitere Lebensfunktionen zu verlieren, wollten anderen nicht zur Last fallen. Und sie wollten über die Umstände ihres eigenen Todes mitbestimmen. Unerträgliche Schmerzen wurden kaum als Grund genannt. Das spricht für die gute Schmerztherapie in den Hospizen.

85 Prozent der Menschen, die sich für diesen Weg entschieden hatten, starben in einem Zeitraum von zwei Wochen nach Beginn der Nahrungs- und Flüssigkeitsverweigerung. Dieser Tod ist nach Einschätzung der Schwestern und Pfleger nicht grausam: Auf einer Skala von 0 (für: sehr schlecht) bis 10 (sehr friedlich) bewerteten sie den Tod dieser Patienten durchschnittlich mit bemerkenswerten acht Punkten.

Das erstaunt, denn wenn von „Verhungern“ und „Verdursten“ die Rede ist, denkt man meist spontan an Menschen, denen dieses Schicksal aus voller Gesundheit heraus von außen aufgezwungen wird. Schon sprachlich bezeichnen die Begriffe eine subjektive Missempfindung.

Auch Ärzte und Pflegekräfte denken meist zuerst an die „normalen“ Situationen des Lebens, in denen die Kalorien-, vor allem aber die Flüssigkeitsbilanz des Körpers möglichst ausgeglichen sein sollte. Dafür zu sorgen, gehört zu ihrem Selbstverständnis und Berufsethos – oft selbst dann noch, wenn unheilbar Kranke nicht mehr bei Bewusstsein sind und per Magensonde ernährt werden müssen.

Sein „Bauchgefühl“ habe ihm gesagt, dass „etwas Schreckliches geschehen“ werde, wenn ein Sterbender freiwillig mit Essen und Trinken aufhöre, gab denn auch ein Hausarzt aus Oregon zu Protokoll. Er fügte hinzu: „Wenn solche schlimmen Dinge nicht passieren, ist das zugleich überraschend und schockierend.“

Die Erfahrung hat ihn jedoch gelehrt, die Entscheidung seiner Patienten zu billigen und sie weiter mit seiner Hilfsbereitschaft zu begleiten. Pflegebedürftige, durch eine schwere Krankheit geschwächte, bettlägerige Patienten haben meist wenig Appetit. Ihr Entschluss ist als ein freiwilliger Verzicht zu sehen, der nicht zwingend quälende Empfindungen wie Hunger und Durst zur Folge hat. Unangenehm ist allerdings oft ein trockener Mund, der jedoch mit Eiswürfeln und getränkten Tüchern sehr wirkungsvoll behandelt werden kann.

Die Hauptautorin der Studie Linda Ganzini hatte dem Vernehmen nach zunächst Hemmungen und Bedenken, die Daten ihrer Untersuchung zu veröffentlichen.

Sie fürchtete das Missverständnis, man wolle diese von einer Minderheit bewusst gewählte Form der Beschleunigung des Lebensendes nun allgemein propagieren. Oder, schlimmer noch, gar Druck auf Todkranke ausüben. Zudem wird immer wieder der Einwand geäußert, zu einem solchen „Hunger- und Durst-Streik“ am Ende des Lebens entschlössen sich vor allem depressive Menschen. „Ich hatte Sorge, dass Ärzte diese Möglichkeit nun zu schnell vorschlagen könnten, obwohl wir noch nicht genug darüber wissen.“ Dann aber hat eine der Krankenschwestern die Ärztin gedrängt, die Studie doch zu veröffentlichen. Deren Bruder war kurz zuvor gestorben, nachdem auch er die Entscheidung getroffen hatte, nicht mehr zu essen und zu trinken.

Die Angehörigen hatten sich zunächst bemüht, das vor dem Pflegepersonal geheim zu halten. Sie hatten Angst, Ärzte und Schwestern würden den Entschluss nicht billigen. „Wir müssen darüber sprechen“, sagte sich Linda Ganzini darauf hin. „Und zwar deshalb, weil es geschieht.“

Adelheid Müller-Lissner

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