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Leukämie: Mit einer Krebstherapie im Gepäck von Berlin nach Moskau

Der fünfjährige Wadim hat Leukämie – in seiner Heimat Russland wird er nach deutschen Standards behandelt. Sein Leben verdankt er dem Berliner Verein „Kontakte“, der Medikamente, Geräte – aber vor allem Know-how nach Moskau brachte

Wadim Isaak ist fünf Jahre alt. Er lebt in Sibirien, in Bernaul. Das liegt 180 Kilometer südöstlich von Nowosibirsk am Fluss Ob. Wadim hat Leukämie, genau gesagt: akute lymphoblastische Leukämie (ALL), die häufigste Unterart von Blutkrebs bei Kindern und Jugendlichen.

„Pro Jahr erkranken etwa fünf von 100 000 Kindern daran“, sagt Arend von Stackelberg, Kinderonkologe an der Charité in Berlin. Das Wort Leukämie kommt aus dem Griechischen und bedeutet „weißes Blut“. Bei dieser bösartigen Erkrankung funktioniert die Blutbildung im Körper nicht mehr: Im Knochenmark vermehren sich die weißen Blutkörperchen (Leukozyten) unkontrolliert, bevor sie ausgewachsen sind. Diese unreifen Zellen drängen die Bildung normaler, funktionsfähiger Blutkörperchen immer weiter zurück. Dadurch kommt es zu Blutarmut (Anämie) und Fieber. Außerdem kann das Blut bei Verletzungen nicht mehr schnell genug gerinnen. „Blass, fiebernd, blutend“, so fasst Stackelberg die Symptome zusammen. So war es auch bei Wadim.
 
Seit 1991 arbeiten deutsche und russische Ärzte zusammen

Seine Eltern brachten ihn ins Provinzkrankenhaus. Der Schock war groß, als sie die Diagnose hörten. Denn die akuten Formen der Leukämie sind besonders aggressiv. Ohne adäquate Behandlung sterben die Betroffenen innerhalb weniger Monate. Auch Wadims Zustand verschlimmerte sich rapide.

Seine einzige Chance: eine Chemotherapie, bei der die bösartigen Blutzellen mit Zellgiften bombardiert werden. „Das dauert etwa ein halbes Jahr“, sagt Günter Henze, Leiter der Charité-Kinderklinik mit Schwerpunkt Onkologie. Die kleinen Patienten müssen dazu immer wieder ins Krankenhaus. Danach werden sie noch anderthalb weitere Jahre mit einer sanfteren Chemotherapie behandelt – in dieser Zeit können sie ein weitgehend normales Leben führen.

„Die größte Gefahr ist ein Rückfall“, sagt von Stackelberg. Die Eltern werden deshalb darin geschult, Komplikationen richtig einzuschätzen. Nur so können sie ihr Kind im Ernstfall schnell genug in eine Klinik bringen. Nach zwei Jahren sollten alle bösartigen weißen Blutkörperchen vernichtet sein. Gibt es in fünf Jahren keinen Rückfall, gilt das Kind als geheilt.

Nach diesem Behandlungsschema gingen auch die Mediziner im sibirischen Bernaul vor. Die Chemotherapie schlug bei Wadim an, sein Zustand besserte sich. Doch dann erlitt er einen schweren Rückfall. „Die Ärzte sahen keine Chancen mehr und brachen die Chemotherapie ab“, sagt Eberhard Radczuweit vom Berliner Verein „Kontakte“. Seit 1991 sammelt der Verein Spendengeld – vor allem für die Ausbildung russischer Spezialisten. „Uns geht es eher darum, die Behandlung in Russland zu verbessern, und nicht darum, die Kinder nach Deutschland zu holen“, sagt Radczuweit.

Eine Behandlung in einer deutschen Klinik – das hatte sich Wadims Mutter Olga eigentlich vorgestellt, als sie einen verzweifelten Brief an die Deutsche Kinderkrebshilfe schrieb. Das sei ihre letzte Hoffnung. Die Bonner Stiftung informierte den Berliner Verein. Geschäftsführer Radczuweit riet der Mutter, nach Moskau ins „Republiks-Kinderkrankenhaus“ zu fahren. Dort gebe es ausgezeichnete Therapiemöglichkeiten. „Wadims Weiterbehandlung in Deutschland hätte sehr viel Geld gekostet“, erklärt Radczuweit. Sein Verein besorgte spezielle Medikamente und finanzierte den Aufenthalt der Mutter in Moskau während Wadims Behandlung.

Die Heilungschancen  liegen inzwischen bei mehr als 70 Prozent

„Die Heilungschancen liegen dort mittlerweile bei mehr als 70 Prozent“, sagt Alexander Karachunskiy, der in der Moskauer Klinik die Station für krebskranke Kinder aufgebaut hat. Das konnte er nur mit viel Unterstützung aus Berlin tun: Geld vom Kontakte-Verein, Medikamente und Geräte von der Berlin-Apotheke sowie medizinisches Know-how von der Charité. Seine Zusammenarbeit mit dem Berliner Kollegen Günter Henze geht bis ins Jahr 1991 zurück. „Dank Gorbatschows Perestrojka durften wir erstmals zur Weiterbildung in den Westen“, erzählt Karachunskiy. Der russische Arzt ging ans Klinikum Steglitz der Freien Universität Berlin, heute Charité, und studierte bei Henze die optimale Leukämie-Therapie. Er staunte, als er hörte, dass in Deutschland 70 Prozent der Kinder, die an ALL litten, geheilt wurden. In der damaligen Sowjetunion war diese Diagnose fast immer ein Todesurteil – nicht einmal jedes zehnte Kind überlebte.

„Damals erkannte ich den Wert klinischer Studien“, sagte Karachunskiy kürzlich bei einem Empfang im Berliner Roten Rathaus, zu dem er mit seinem Team und den Kontakte-Mitarbeitern eingeladen war. Denn in westlichen Kliniken war es üblich, an Leukämie erkrankte Kinder innerhalb von Studien zu behandeln. Dabei werden alle Details der Therapie festgehalten: Art und Menge der Medikamente, Zeitintervalle, Untersuchungsergebnisse. So lassen sich Therapieempfehlungen ableiten, auch „Protokolle“ genannt. Sie tragen oft den Ortsnamen der an der Ausarbeitung beteiligten Kliniken.

„Die Protokolle sind nicht selten Hunderte Seiten dick“, sagt von Stackelberg, der sich seit langem für das deutsch-russische Projekt engagiert. „Der weltweite Goldstandard für die Behandlung von Kindern mit ALL ist das Protokoll Berlin-Frankfurt-Münster (BFM)“, erklärt Henze. Doch in den russischen Kliniken, die dieses Protokoll Anfang der neunziger Jahre übernommen hatten, blieben die Erfolge aus. „Es fehlte die nötige Infrastruktur, zudem bekam man die schweren Nebenwirkungen der Zellgifte nicht in den Griff“, berichtet Karachunskiy. So entwickelten der FU-Mediziner Henze und sein Gast aus Moskau ein an russische Verhältnisse angepasstes Protokoll. Wie war das Personal an den Kliniken ausgebildet, welche Geräte gab es? Auch den Einsatz der Medikamente galt es zu modifizieren. Henze drängte darauf, nur Zellgifte zu verwenden, die sich in Studien bewährt hatten und wenige Nebenwirkungen zeigten.

Die Ärzte entwickelten für Russland eigene Behandlungsstandards

So entstand das Protokoll Moskau-Berlin (MB), das zuerst in Moskau und später an mehreren russischen Kliniken erprobt wurde. „Es führt zu weniger Nebenwirkungen, ist leicht anwendbar – und ebenso effektiv wie das etablierte Protokoll BMF“, sagt Karachunskiy.

Der kleine Wadim bekommt also die bestmögliche Behandlung. Das bestätigen auch die neuesten Nachrichten aus Moskau. „Dem Jungen geht es zunehmend besser“, sagt Radczuweit. Wadim sei vor dem sicheren Tod bewahrt worden. Insgesamt zählt der Charité-Onkologe Henze mehr als 2000 russische Kinder, denen seit Einführung des Protokolls Moskau-Berlin das Leben gerettet worden sei. Damit hat sich die Strategie bewährt, sie nicht auf eine riskante Reise nach Deutschland zu schicken, sondern die Behandlung vor Ort zu verbessern.

Angesichts des immer noch desolaten russischen Gesundheitssystems geht das nur mit den Spenden des Kontakte-Vereins. Er unterstützt auch die Studienzentrale in Moskau. Derzeit wird die Umsetzung des Protokolls Berlin-Moskau untersucht: 40 Zentren mit 280 Leukämie-Patienten im Kindesalter sind beteiligt. Je nach Schweregrad der Krankheit sollen 90 bis 95 Prozent dieser Kinder geheilt werden. Für dieses Ziel lohne sich der Einsatz von Spendengeld allemal, meint Kontakte-Aktivist Radczuweit.

Paul Janositz

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