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Gesundheit: Loch an Loch

57 Kilometer unter Tage: In der Schweiz hat der Bau des längsten Eisenbahntunnels der Welt begonnen. Eine erste Bilanz

Vor den Tunnelbohrmaschinen ist’s duster. Die beiden 410 Meter langen, computergesteuerten Lindwürmer fressen sich, von Süden her kommend, durch das Gebirge. Sie haben damit begonnen, den längsten Eisenbahntunnel der Welt zu bauen. Er soll die Verbindung zwischen Zürich und Mailand um mehr als eine Stunde verkürzen und dazu auf 57 Kilometern unter dem Schweizer Aar- und Gotthardmassiv herlaufen.

Die Bohrköpfe reiben das Gestein mit ihren stählernen Rollenmeißeln auf. In den ersten Monaten sind die beiden parallelen Tunnelröhren allerdings nur langsam gewachsen. Denn die Steinbeißer verlangen nach hartem Fels, um richtig auf Touren zu kommen. Hinter dem Südportal in Bodio trafen sie dagegen sogleich auf eine Störzone aus Kakirit, einem bei der Gebirgsbildung zermahlenen Gestein, das die Maschinen leicht zusetzen kann. Jeder hinzugewonnene Meter muss hier schnell gestützt und gesichert werden. Statt täglich 20 Meter, schaffen die Tunnelbohrmaschinen oft nur zwei bis drei Meter am Tag.

Wie viele solche Störzonen es gibt, ist ungewiss. Die Alpen sind alles andere als ein homogenes Gebirge. Sie sind die Knautschzone, die die Kollision des afrikanischen mit dem europäischen Kontinent abfedert.

Von Afrika her schiebt sich die starre adriatische Platte in die weiche europäische Kruste hinein und faltet das Aar- und das Gotthardgebirge auf. Die Meeressedimente, die hier vor 70 bis 250 Millionen Jahren über einem felsigen Untergrund lagen, wurden inzwischen weit angehoben. Sie stehen heute senkrecht zusammengepresst zwischen hartem Granit und Gneis (siehe Grafik).

Da sollen die Bohrmaschinen nun in 500 Metern Höhe über dem Meeresspiegel schnurstracks hindurch. Nicht ganz gerade allerdings, sondern auf einer leicht s-förmigen Bahn, weil die Tunnelbauer die höchsten Gipfel ein wenig umfahren möchten: Wenn 2000 Meter Gestein über dem Bauwerk liegen, ist der Druck von oben enorm.

Von fünf Punkten aus rücken die Bergleute vor, um die Gotthardlinie bis zum Jahr 2015 in Betrieb nehmen zu können. In Bodio wursteln bereits zwei Tunnelbohrmaschinen vor sich hin. Die Spezialmaschinen der Firma Herrenknecht aus dem badischen Schwanau sollen im Jahr 2005 das etwa 15 Kilometer entfernte Faido erreichen.

In Faido haben die Mineure unterdessen mit den bislang größten Problemen zu kämpfen. Vor gut einem Jahr haben sie hier damit begonnen, große Kavernen auszuheben. Hier soll einmal eine Nothaltestelle für die Hochgeschwindigkeitszüge entstehen und ein Spurwechsel von einer Tunnelröhre in die andere möglich sein. Doch die Baustelle, die über einen 2,7 Kilometer langen Zusatzstollen versorgt wird, hat den Bergleuten bisher keine Freude gemacht. Nicht nur weil es hier vor einem Monat zu dem inzwischen dritten Todesfall beim Bau des Gotthardtunnels gekommen ist. Auch das Gestein ist keinesfalls so standfest wie erhofft.

Die Decke bricht ein

„Wir hatten schon zwei Tunnelabbrüche, bei denen die ganze Tunneldecke runtergekommen ist“, sagt Philipp Unterschütz, einer der Sprecher des Projekts. Dabei wurden die hier zusammentreffenden Gesteine, die harten Leventina-und Lucomagno-Gneise, als bautechnisch sehr günstig eingestuft. Die Kontaktzone ist allerdings so unsicher, dass die Ingenieure nun darüber nachdenken, die Hallen ein gutes Stück nach Süden zu verschieben – trotz erheblicher Mehrkosten. „Diesen Sommer soll darüber entscheiden werden, was wir machen“, sagt Unterschütz.

Das Gebirge in Faido stellt auch die Wissenschaftler des Geoforschungszentrums Potsdam auf einer harte Probe. Günter Borm und sein Team testen hier ein neues seismisches Verfahren. Bis zu 200 Meter weit horchen die Forscher mit Geophonen in Falten und Klüfte des Gesteins hinein, um starke Gebirgsspannungen oder drohende Wassereinbrüche bereits im Voraus zu erkennen.

„Wir möchten wissen, ob die Bauleute in gefährliche Zonen hineinfahren“, sagt Borm. „Denn die Zeit da unten ist extrem teuer: Jeder zusätzliche Arbeitstag kostet Millionen.“

Bei ihren vorausschauenden Messungen passen sich die Forscher an das Baugeschehen an, ohne es zu stören. Ein an den Baumaschinen angebrachter pneumatischer Hammer erzeugt Schallwellen. Der Schall breitet sich im Gestein aus und wird je nach Beschaffenheit des Gebirges gedämpft und reflektiert. Miniaturisierte Geophone, die in den Spitzen der Tunnel-Verankerungen stecken, registrieren anschließend das Echo. Aus diesem Echo zeichnen die Forscher ein dreidimensionales Abbild des Gebirgsinnern.

„Das funktioniert so ähnlich wie bei einem Ultraschallbild oder bei einer Computertomografie“, sagt Borm. Nur ein Spezialist sei in der Lage, die entstandenen Bilder zu lesen. „Und wir sind gegenwärtig noch dabei zu lernen, wie wir sie lesen können. Wir sind froh, dass die Schweizer uns hier hineinlassen.“

Bei den Messungen während des aktiven Bohrbetriebs habe sich das neue System bisher gut bewährt, sagt auch der Potsdamer Geophysiker Rüdiger Giese. Es liefere von Woche zu Woche bessere Ergebnisse.

Wenn sich die Tunnelbohrmaschinen in ein paar Jahren von Faido aus weiter in Richtung Norden fressen, ist geologische Voraussicht besonders gefragt. Dort steht den Tunnelbauern die berüchtigte Piora-Mulde im Weg. Sie besteht aus einem weißen, bröseligen Gestein: dem Zuckerdolomit.

1996 näherten sich die Bergleute der Zone mit einem gut fünf Kilometer langen Sondierstollen. Als sie die Mulde anbohrten, strömte aus einem nur faustgroßen Loch feinkörniger Schlamm in den Stollen. Mehrere 1000 Kubikmeter drangen unter hohem Druck in den Stollen ein und begruben die Bohrmaschine unter sich. Es dauerte Monate, den Schlammfluss zum Stehen zu bringen.

Doch dem Schreck folgte die große Erleichterung. Der Stollen verlief 300 Meter oberhalb der geplanten Tunneltrasse. Und der wasserhaltige Zuckerdolomit reicht offenbar nicht bis an die Eisenbahnstrecke heran. Eine Probebohrung hat inzwischen ergeben, dass das Gestein dort unten kompakt ist: Eine dünne, wasserundurchlässige Gipsschicht dichtet die Trasse wie ein Korken ab.

Der Berg muss sich austoben

Heute sehen die Tunnelbauer die Hauptschwierigkeiten weiter nördlich bei Sedrun, im Tavetscher Zwischennmassiv, auf sich zukommen. Es bildet den Übergang zwischen dem Gotthard- und dem Aargebirge. Sandwichartig wechseln hier Schichten aus hartem Gneis, Schiefer und Phyllit, einem extrem feinschiefrigen, weichen Gestein.

In Sedrun bohren die Bergleute zunächst 20 Zentimeter große Löcher in den Berg und weiten diese stufenweise auf anderthalb Meter und dann auf den Tunneldurchmesser von gut neun Metern aus. Sie brechen rundherum sogar noch mehr Gestein heraus. So wollen sie eine Pufferzone schaffen, in der sich der Berg auch in Zukunft austoben und verformen kann, ohne das Stahlgerüst und die dicke Gussbetonschale zu schädigen.

Mehr als einen Meter am Tag kommen die Mineure in Sedrun nicht voran. Und an den Einsatz großer Tunnelbohrmaschinen ist hier nicht zu denken. Dagegen wartet weiter nördlich in Amsteg ein gerade zusammengesetzter Lindwurm mit einem 9,58 Meter großen Bohrkopf auf den Vortrieb nach Sedrun. Vom 27. Mai an soll er eine 11,4 Kilometer lange Trasse in den Granit fräsen.

Am Nordportal in Erstfeld kann der Bau dagegen frühestens 2004 beginnen. Hier streiten die Parteien noch darüber, wie die Tunneleinfahrt gestaltet wird, die die freie Sicht aufs Mittelmeer eröffnen soll.

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