zum Hauptinhalt

Gesundheit: Lust auf Europa, aber keine Ahnung

Deutsche Jugendliche haben eine starke europäische Identität, die jedoch abstrakt bleibt: Andere politische Themen interessieren mehr

Auf der Liste der Europa-Treuen stehen deutsche Jugendliche ganz oben: Knapp zwei Drittel fühlen sich Europa besonders innig verbunden – aber nur jeder vierte britische Jugendliche empfindet ähnlich. Und mehr als andere erwarten junge Deutsche Gutes von Europa. „Ich finde es total klasse, dass man eben kurz, ganz ohne Grenzkontrollen, in die Bretagne fahren kann, wenn man Lust dazu hat, oder dass man in Portugal arbeiten kann, wenn man will“, schwärmt der 23 Jahre alte Angelo aus Bielefeld. Er spricht seiner Generation aus der Seele. Das zeigen die jetzt vorliegenden Ergebnisse des EU-Forschungsprojekts „Jugend und europäische Identität“.

Für die länderübergreifende Studie wurden je 400 „Jugendliche“ zwischen 18 und 25 Jahren in zehn europäischen Städten befragt: In Bielefeld und Chemnitz, in Wien und Bregenz (Österreich), Edinburgh und Manchester (Großbritannien), Bilbao und Madrid (Spanien), Prag (Tschechien) und Bratislava (Slowakei). Die Stichproben sind für die Altersgruppe repräsentativ. Klaus Boehnke und Daniel Fuss, Soziologen an der International University Bremen (IUB), werten die deutschen Daten aus. „Jugendliche mit höherer Bildung, Auslandserfahrung und einem politisch interessierten Freundeskreis erweisen sich als besonders offen für Europa“, resümiert Fuss.

In der Schule kein Thema

Zu dem positiven Europa-Bild aber scheint die Schule nur marginal beizutragen. Lediglich jeder fünfte Befragte – 22 Prozent der Jugendlichen mit Realschule und nur 19 Prozent der Abiturienten – erinnert sich, dass die EU und ihre Institutionen, Gesetze, Politik in der Schule ausführlich behandelt worden sind. Ein ähnliches Vakuum hinterlassen bloß noch die Schulen in Manchester. Dagegen ist die Jugend Wiens vergleichsweise fit für Europa: Gut die Hälfte fühlt sich von der Schule umfassend auf Europa vorbereitet – in Bregenz, Prag und Bratislava noch mehr als ein Drittel.

Offensichtlich schmälert das EU-Bildungsdefizit der deutschen Jugendlichen keineswegs ihre Zuneigung zur EU. Denn sie haben Lust auf Europa. Und Europa ist für sie die EU, während Jugendliche anderer Länder unter Europa eher gemeinsame Werte und Traditionen verstehen. Vielleicht projizieren die Deutschen in die EU jene Werte, die ein Brite eher der europäisch nationalen Tradition zuschreibt, wie etwa Offenheit für fremde Kulturen. Jedenfalls sind deutsche Befragte mit starker Europa-Identität anderen Kulturen besonders zugewandt und sehen die EU auch als kulturelle Chance.

Noch ist das Verhältnis zwischen Europa- und National-Bewusstsein und den damit verbundenen Werten nicht ausgelotet. Erwiesen aber ist: Nationale und europäische Identität schließen sich gegenseitig nicht aus; man kann sich gleichzeitig als Deutscher und Europäer fühlen. So identifizieren sich von den Jugendlichen mit Abitur – und das sind fast die Hälfte der Befragten – gleich viele mit Deutschland und mit Europa (66 bzw. 65 Prozent). Nur den Jugendlichen mit Hauptschulabschluss steht Deutschland noch etwas näher: Von ihnen fühlen sich 72 Prozent mit Deutschland, 57 Prozent mit Europa stark verbunden. Als sehr viel national-lastiger erweist sich die Jugend von Manchester, die vor allem National- aber wenig Europa-Bewusstsein zeigt.

Zwei Drittel der Befragten in Bielefeld und Chemnitz erwarten von der EU-Mitgliedschaft insgesamt positive Auswirkungen – je höher der Bildungsabschluss, desto größer sind die Hoffnungen. Die meisten Befragten mit Abitur bewerten die EU sowohl positiv für Deutschland, als auch für die Heimatregion und das persönliche Leben. Von den Befragten mit Hauptschule sieht nur noch jeder Vierte einen persönlichen Nutzen in der Europäischen Union.

Kurz: Mit den persönlichen Erwartungen wächst die Identifikation. So rechnen sich Jugendliche mit Abitur bessere Chancen auf dem größeren Arbeitsmarkt aus. Fast jeder vierte Abiturient steht auch schon in den Startlöchern um in naher Zukunft im europäischen Ausland zu leben und zu arbeiten. Von den Jugendlichen mit Hauptschule zieht es immerhin noch 17 Prozent in die europäische Ferne.

Tierschutz ist wichtiger

Mobiler gibt sich nur noch Österreichs Jugend: Fast jeder dritte junge Österreicher möchte künftig anderswo in Europa leben. Ein gutes Omen. Denn mit der Reiselust steigt auch die Lust auf Europa: Von den Jugendlichen, die schon einmal längere Zeit im Ausland lebten, identifizieren sich 74 Prozent mit Europa.

„Spontan aber können deutsche Jugendliche nur sehr wenig zu den Vorzügen Europas und ihrem Gefühl als Europäer sagen“, hat Fuss festgestellt. „Ihre starke europäische Identität erweist sich als erstaunlich inhaltsleer und abstrakt.“ Nur die Hälfte zeigt wirkliches Interesse an der europäischen Integration – am meisten die Jugendlichen mit geringer Schulbildung! Was die Jugend genuin beschäftigt sind Arbeits- und Ausbildungsplätze (91 Prozent), Bildung (86 Prozent), Gleichberechtigung (71 Prozent), Armut und Terrorismus (je 69 Prozent). Selbst der Tierschutz rangiert auf der Interessen-Skala noch vor der europäischen Integration.

Und wenn jetzt Wahlen zum europäischen Parlament anstünden, würden kaum 60 Prozent der deutschen Jugendlichen hingehen. Das politische Interesse an Europa versickert wohl in ihrer Bildungslücke. Viele Befragte wissen schlicht nicht, warum sie sich engagieren sollen: „Europäische Wahlen?“, fragt sich der 20 Jahre alte Stefan aus Chemnitz. „Na ja, das merkt man nicht wirklich; ob ich nun diese oder jene Partei wähle, das interessiert nicht so, das kriege ich nicht so mit.“

Europa gewinnt im Bewusstsein der Jugendlichen keine klare Kontur. Der Soziologe Daniel Fuss zweifelt denn auch an der Belastbarkeit der deutschen Europa-Identität: „Der Verfassungskonvent hat eine große Chance vergeben, junge Menschen zu beteiligen“, kritisiert er. Der Prozess sei viel zu abgehoben gewesen. Ideenwettbewerbe oder wenigstens eine bürgernahe Vermittlung des Verfassungstextes hätten der europäischen Identität von Jugendlichen Substanz verleihen können.

Ruth Kuntz-Brunner

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false