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Mit Märchen lässt sich das Langzeitgedächtnis erreichen - das will ein Berliner Pilotprojekt beweisen.

© epd

Märchen und Demenz: Was einmal war

Märchen können ganz frühe Erinnerungen wachrufen. Momente, die mit Geborgenheit und Sicherheit verbunden sind. Ein Berliner Projekt erforscht jetzt, wie die „Bremer Stadtmusikanten“ oder „Schneewittchen“ die Pflege Demenzkranker erleichtern könnten.

„Entschuldigung, wissen Sie vielleicht, wie spät es ist?“, fragt die Bewohnerin, die sich im Eingangsbereich des Katharinenhofs auf einen Stuhl gesetzt hat. „Gleich 17 Uhr.“ „Ach, nicht 13 Uhr?“ Die Dame schaut ein bisschen irritiert, als müsse sie ihren inneren Zeitplan neu sortieren, und zupft ihre Bluse zurecht. Sie ist einer von rund 500 000 Menschen in Deutschland, die wegen einer demenziellen Erkrankung in ein Heim gezogen sind. Demenz ist mittlerweile die häufigste Ursache dafür, dass Menschen ihre gewohnte Umgebung gegen eine Pflegeeinrichtung eintauschen müssen.

An diesem Punkt hat Diane Dierking vor einigen Jahren angesetzt: Sie hat sich gefragt, ob Märchen den Bewohnern und dem Personal den Alltag erleichtern können – weil Menschen, die in der Gegenwart immer verlorener wirken, durch diese Geschichten Zugang zu ganz frühen Erinnerungen bekommen. Dierking ist Projektleiterin bei der „Märchenland – Deutsches Zentrum für Märchenkultur gGmbh“, einer Art Lobbyorganisation, die zum Beispiel Lesungen organisiert, auf denen dann der Finanzminister oder andere prominente Personen – genau: Märchen erzählen.

2012 denkt Diane Dierking erstmals über den wissenschaftlichen Zusammenhang von Märchen und Demenz nach. Im Internet entdeckt sie dazu „genau vier Beiträge“. Das Team startet ein Pilotprojekt, in dem sich die Annahme bestätigt, dass sich mit Märchen das Langzeitgedächtnis von Demenzpatienten erreichen lässt. Es folgt das Modellprojekt „Es war einmal … Märchen und Demenz“, das erforschen soll, wie man die Erzählungen „gezielt kreativ-therapeutisch in der Pflege einsetzen“ kann.

Die Märchenerzählerin trägt bodenlanges Kleid. Bloß keine Dienstuniform!

Gefördert wird es vom Bundesfamilienministerium, außerdem von drei Partnern, die schon in der Pilotphase dabei waren: der Senatsgesundheitsverwaltung, der Agaplesion Bethanien Diakonie und dem Katharinenhof am Preußenpark. In die Modellphase steigen außerdem Einrichtungen aus Hessen, Brandenburg und Niedersachsen mit ein. Wissenschaftlicher Partner ist die Alice Salomon Hochschule. Vor ein paar Tagen ist die Veranstaltungsphase des Projekts zu Ende gegangen – was die Teams an diesem trüben Donnerstag im Katharinenhof feiern.

Insgesamt haben sich in den fünf Einrichtungen 63 Heimbewohner an der Untersuchung beteiligt, die zwischen 1919 und 1968 geboren wurden und überwiegend an einer mittelschweren bis schweren Demenz leiden. Sie haben in den vergangen zwei Jahren jede Woche Besuch von einer Märchenerzählerin bekommen. Eine davon ist Silvia Ladewig. Sie trägt heute ihre „Dienstuniform“, ein bodenlanges Kleid, dessen Stoff ein wenig an Brokat erinnert. Und dessen Form und Farbe – das war den Organisatoren sehr wichtig – absolut nichts gemeinsam hat mit einer Pflegeuniform.

Menschen mit Demenz reagieren emotionaler, Inhalte kommen ungefilterter bei ihnen an

Das Kleid hat vielen Zuhörern zu Beginn der Stunden geholfen, sich daran zu erinnern, dass jetzt gleich wieder etwas Besonderes passieren wird, was man auf keinen Fall verpassen will. Ladewigs Mimik und ihre klare Stimme zeigen schnell: Sie ist ein Profi auf ihrem Gebiet. Für den Umgang mit den demenziell erkrankten Menschen hat sie aber noch einmal eine spezielle Schulung bekommen. Erzählt hat sie oft länger als 60 Minuten, das sei auch abhängig von der Tagesform der Zuhörer gewesen. Demenziell erkrankte Zuhörer mit anderen zu vergleichen, findet sie schwierig. Menschen mit Demenz reagierten emotionaler, der Inhalt komme ungefilterter bei ihnen an. „Manchmal haben sie auch geweint, weil die Geschichte sie so mitgenommen hat oder weil die Erzählung sie an etwas anderes erinnert hat.“

Das ist auch für Diane Dierking die besondere Stärke der Märchen: ihre Fähigkeit, ganz frühe Erinnerungen aufzurufen an Erzählsituationen auf dem Schoß der Oma oder an Momente kurz vor dem Schlafengehen. Momente, die ganz elementar mit Geborgenheit und Sicherheit verbunden sind. Zu den Favoriten der Patienten gehöre auf jeden Fall das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten, in dem ein altes Tier vom Hof gejagt wird oder fliehen muss und dann „in neuer Gemeinschaft eine neue Identität und ein neues Zuhause findet und einen glücklichen Lebensabend verbringt“.

In der nächsten Projektphase werden Ingrid Kollak, Professorin für Pflegewissenschaft an der Alice Salomon Hochschule, und ihr Team das Material sichten, und das bedeutet vor allem: Filme untersuchen. Denn die Märchenstunden wurden immer wieder aufgezeichnet. „Das Material wird in Gruppen analysiert“, sagt Kollak. Und zwar von Menschen aus unterschiedlichen Status-, Berufs- und Altersgruppen. Die Interaktionsanalyse soll klären, wie die Zuhörer auf die Erzählungen reagieren, ob sie reglos dasitzen, den Fuß oder Kopf bewegen, dem Erzählten gebannt folgen oder eher reglos bleiben. Und natürlich auch, inwiefern die Märchenstunden die Reaktionen der Zuhörer langfristig verändern. Kollak hofft auf eine „breite Diskussion“. Das Projekt läuft noch bis Ende September.

Und was sagen die Teilnehmerinnen? Die Dame, die zu Beginn nach der Uhrzeit gefragt hatte und immer noch neben dem Eingang sitzt, freut sich, „dass endlich mal einer auf die Idee gekommen ist, Märchen zu erzählen“. Schließlich seien diese Geschichten ja „am Aussterben, das ist schon sehr traurig“. Noch besser als die Bremer Stadtmusikanten hat ihr Schneewittchen gefallen.

Auch ihre Sitznachbarin hatte Lust auf das Projekt, besonders gut fand sie „die realistischen Märchen, ,Hänsel und Gretel‘ oder ,Die sieben Schwaben‘“, Geschichten die „auch ein bisschen spannend“ sind. Ansonsten seien Krimis ihre Welt. Aber jetzt stehe erst einmal ihre Hochzeit an. Das erzählt sie jede Woche.

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