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Gesundheit: Magersucht: Prinzessin auf der Waage

"Lady-Diana-Clinic" sollte das Haus fürderhin heißen. Im Jahr 1998 verliehen radikale Psychiatrie-Kritiker dieser Forderung Nachdruck, indem sie die Büste des Nervenarztes Karl Bonhoeffer aus dem Gebäude der Charité in Berlin entwendeten, wo sich unter anderem die Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Charité befindet.

"Lady-Diana-Clinic" sollte das Haus fürderhin heißen. Im Jahr 1998 verliehen radikale Psychiatrie-Kritiker dieser Forderung Nachdruck, indem sie die Büste des Nervenarztes Karl Bonhoeffer aus dem Gebäude der Charité in Berlin entwendeten, wo sich unter anderem die Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Charité befindet. Die britische Prinzessin, so die Überzeugungstäter, könne als Vorbild dienen, weil sie ihre gravierenden psychischen Probleme ohne Einlieferung in eine Klinik bewältigt habe.

Die schöne, schlanke Prinzessin litt lange Jahre an Ess-Brecht-Sucht. Dass in der Klinik aus Anlass ihres 80-jährigen Bestehens am Freitag vergangener Woche ein Symposium zum Thema Essstörungen stattfand, war also besonders passend. Was sich in diesen 80 Jahren in Sachen Schönheitsideal ereignet hat, machte gleich zu Beginn Klinikchef Klaus-Jürgen Neumärker deutlich: Lag der Body-Mass-Index (BMI) - Gewicht in Kilo geteilt durch Körpergröße im Quadrat - der amerikanischen Schönheitsköniginnen im Jahr 1920 noch bei 22, so war er zum Jahrtausendwechsel schon auf 17,5 gesunken: Eine 1,70 große Kandidatin wiegt also heute im Durchschnitt 13,5 Kilo weniger, wiegt 50 statt 63,5 Kilo.

Schon Kinder machen sich heute Sorgen um ihre Figur, und immer mehr Jugendliche haben einschlägige Erfahrungen mit Diätversuchen. Trotzdem, sagte Hans-Christoph Steinhausen von der Universität Zürich, ist die Magersucht (Anorexia nervosa) weiterhin eine seltene Erkrankung: Nicht ganz zwei von 1000 jungen Frauen sind betroffen. "Wir müssen hier die Proportionen wahren", forderte der Kinder- und Jugendpsychiater.

Etwas anders sieht es bei der Bulimie aus: Die Anzahl der Menschen, die regelmäßig große Nahrungsmengen verschlingen und anschließend gezielt Erbrechen herbeiführen, hat sich in den letzten Jahren verdreifacht, wie Ulrike Schmidt vom Maudsley-Hospital in London betonte. Zwischen fünf und zehn Prozent der Essgestörten sind Männer.

Vor allem die Magersucht, die häufig einer Bulimie vorausgeht, ist also eine Krankheit junger Mädchen und Frauen, mit einem Altersgipfel zwischen und 15 und 20 Jahren. Frühes Eingreifen erhöht die Heilungschancen, deshalb ist die Berufsgruppe der Kinder- und Jugendpsychiater besonders gefragt. Ob die Krankheit wirklich besiegt ist, kann aber erst nach Jahren beurteilt werden.

Am Therapie Centrum Essstörungen des Max-Planck-Instituts in München werden die Patientinnen als "Expertinnen der eigenen Krankheit" betrachtet, wie Monika Gerlinghoff, Leiterin der Arbeitsgruppe Essstörungen, sagte. Zur Behandlung gehören: Psychotherapie, Ernährungstherapie und Teilnahme an der Zubereitung des Essens, sowie gemeinsame Mahlzeiten und die Schulung der Wahrnehmung des eigenen Körpers. Die Wartelisten für einen Platz in der Tagesklinik und der anschließenden ambulanten Behandlung sind lang.

Wer ist überhaupt gefährdet, eine Essstörung zu entwickeln? Eine Reihe von Risikofaktoren werden für die Magersucht ins Feld geführt: Neben psychologischen Faktoren wie einer "perfektionistischen bis zwanghaften Persönlichkeit", hohen Erwartungen und Überängstlichkeit auf Seiten der Eltern, sind inzwischen auch zu frühe Geburt, hohe Werte des Gehirn-Botenstoffs Serotonin, der bei der Regulierung des Appetits eine Rolle spielt, und sogar Veränderungen eines Gens im Gespräch.

Weit bedeutsamer als diese tiefer liegenden Ursachen sind aber wahrscheinlich die konkreten Auslöser, die zur Erkrankung führen: In 70 Prozent der Fälle kann ein schwieriges Lebensproblem dingfest gemacht werden, wie Ulrike Schmidt berichtete. Im Unterschied zu den Anorexie-Patientinnen sind viele Frauen, die eine Bulimie entwickeln, zuvor übergewichtig. Oft haben sie Eltern, die selbst mit der Figur Probleme haben und ihre Töchter mit kritischen Bemerkungen bedenken.

"Dann kommen zwei Risiken zusammen", sagte Ulrike Schmidt. Wie es von hier aus zu dem charakteristischen Krankheitsbild kommen kann, bei dem das Verschlingen riesiger Nahrungsmengen vom regelmäßigen Erbrechen gefolgt wird, versuchen verschiedene Theorien zu erklären. Starke Stimmungsschwankungen und die Tatsache, dass Psychopharmaka manchmal helfen, sprechen dafür, dass Depressionen im Spiel sind. Auch Angst ist ein Faktor: Angst vor der Gewichtszunahme - und das Sich-Übergeben als "angstreduzierendes Ritual".

Die deutsche Bezeichnung Ess-Brech-Sucht stellt dagegen den Kontrollverlust, das "süchtige" Verhalten besonders heraus. Walter Vandereyken von der Katholischen Universität Leuven betonte zudem, dass viele Patientinnen sich vor allem während der Heißhunger-Attacken als gespaltene Persönlichkeiten erleben: "Das bin dann nicht ich selbst!" Anorexie-Patientinnen berichten dagegen eher: "Die Magersucht hat mich stark gemacht" und tun sich, wie Gerlinghoff sagte, schwer damit, diese Stärke der Selbstbeherrschung in der Therapie "herzugeben".

Bulimie ist eine heimliche Krankheit, naturgemäß mit hoher Dunkelziffer, andererseits aber als Störung klar zu definieren. Magersucht dagegen fällt zwar ab einem bestimmten Punkt auf - es ist jedoch schwerer festzulegen, wo sie beginnt. Unter der 85-Prozent-Schwelle des "erwarteten Gewichts" zu liegen, gilt bei den Ärzten als Kriterium.

Andreas Bartsch lehnte diese Orientierung am Body-Mass-Index ab, weil sie den individuellen Körperbau nicht berücksichtigt. "Körperbaulich Hochgewichtige werden damit unter-, körperbaulich Niedriggewichtige übertherapiert", sagte der Psychiater, der über eine Charité-Studie berichtete und inzwischen an der Universität Würzburg tätig ist. Schmal gebaute Mädchen mit langen Beinen könnten so eventuell vorschnell als magersüchtig klassifiziert werden. Bedenklicher noch aber sei das umgekehrte Problem: Bei gedrungenen Menschen mit schwerem Knochenbau, die angesichts des heutigen Schönheitsideals oft über ihren Typ frustriert sind und zahlreiche Diäten probieren, wird eine chronische, gesundheitsgefährdende Essstörung gar nicht oder erst spät erkannt, weil sie vom Gewicht her nicht besonders auffallen. Bartsch mahnte differenziertere Messverfahren an, ermahnte zugleich aber auch seine Kollegen, ihrem Augenmaß zu vertrauen. Zu diesem längst fälligen Mediziner-Machtwort gegen den Terror der Waage passt Gerlinghoffs Vorschlag an ihre Patientinnen, das moderne Badezimmer-Accessoire nach der Therapie ganz aus der Wohnung zu verbannen.

Adelheid Müller-Lissner

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