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Trotz aller Bemühungen: Rudolf Nissen wollte nie wieder in Deutschland lehren.

© picture-alliance / dpa

MEDIZIN Männer: Auf der Flucht vor den Nazis

Rudolf Nissen gilt als chirurgisches Ausnahmetalent, unterstützt vom berühmten Sauerbruch. In die Medizingeschichte geht er aber nicht in Deutschland ein, sondern in der Türkei.

RUDOLF NISSEN

Ein Anruf verändert alles: Nissen solle als Stellvertreter des Klinikchefs allen „nichtarischen“ Assistenzärzten den Rücktritt nahelegen. Es ist Ende März 1933, am Telefon ist der Charité-Verwaltungsdirektor. Rudolf Nissen hat selbst jüdische Wurzeln. „Ich wäre der Erste, der für diesen Akt der freiwilligen Eliminierung in Betracht käme“, sagt er. Seine Stellung stünde nicht zur Debatte, antwortet der Direktor. Nissen weiß, dass das nicht stimmt. Er werde nicht mit den Assistenten sprechen, sagt er und legt auf.

Es ist Nissens zweite Begegnung mit den Nazis. Die erste hat er in München, als er die beim Marsch auf die Feldherrnhalle angeschossenen Hitler-Anhänger operiert. Der berühmteste deutsche Chirurg, Ferdinand Sauerbruch, hatte ihn persönlich nach München geholt und in ihm seinen Lieblingsschüler gefunden. Während Nissen das Fußvolk operiert, verarztet Sauerbruch Hitlers Schulter. Dieser nimmt sich Sauerbruchs gekränktem Stolz an: Sühne für die „Schmach von Versailles“. Als Sauerbruch 1927 an die Charité berufen wird, nimmt er seinen Schüler mit. In Berlin gelingt Nissen ein spektakulärer chirurgischer Erfolg: die Komplettentnahme eines Lungenflügels bei einer 12-jährigen Patientin. Nissen hätte das Zeug, Sauerbruchs Nachfolger zu werden. Der unterschreibt 1933 einen Brief der Professoren, in dem er sich hinter Hitler stellt. Nissen will er dennoch beruhigen: Das sei nur eine kurze Episode. Doch der Schüler spürt: Die Nazis werden es nicht bei der Suspendierung der Klinikassistenten belassen.

„Nach vielen Stunden kam ich zu dem Schluss, Deutschland zu verlassen“, schreibt Nissen 1933. Alles für das Exil in die USA ist veranlasst, da erreicht ihn das Angebot für den chirurgischen Lehrstuhl der Universität Istanbul. Nissen stimmt zu, Sauerbruch spricht mit dem türkischen Ministerpräsidenten, um ihm eine möglichst gute Stellung zu sichern. In Istanbul ist Nissen nicht der einzige Flüchtling: 1936 gibt es dort bereits mehr als 1600 deutsche Hochschullehrer. Er modernisiert die türkische Chirurgie und operiert am Fließband. Mütter sollen ihren Kindern aus Dankbarkeit den Namen Nissen gegeben haben. Gesichert ist, dass sein guter Ruf Patienten aus der ganzen Welt anzieht.

Viel zu viele, findet die Verwaltung. Doch Nissen weigert sich, Patienten abzuweisen. Dafür weist die Verwaltung seine Vertragsverlängerung zurück. Die Familie zieht, eher ungewollt, 1939 doch noch in die USA und 1952 schließlich nach Basel. Nach Deutschland kehrt Nissen nie zurück. Über den von den Nazis verehrten Sauerbruch, der Nissen in seiner Biografie mit zwei Sätzen erwähnt, verliert er kein böses Wort. Er habe ihn geliebt wie einen Vater.

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