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MEDIZIN Männer: Sozialhygieniker aus Kreuzberg

ALFRED GROTJAHN Bismarck sagt, dass bei den Deutschen „mit wenig so viel Zeit totgeschlagen wird wie mit Biertrinken“, meint damit die Stammtischkultur und zeigt, dass das Kaiserreich ein Alkoholproblem hat. Alfred Grotjahn (1869– 1931), Sohn eines drogenabhängigen Landarztes, glaubt aus eigener Erfahrung nicht an die Wirkung von Vernunftappellen.

ALFRED GROTJAHN

Bismarck sagt, dass bei den Deutschen „mit wenig so viel Zeit totgeschlagen wird wie mit Biertrinken“, meint damit die Stammtischkultur und zeigt, dass das Kaiserreich ein Alkoholproblem hat. Alfred Grotjahn (1869– 1931), Sohn eines drogenabhängigen Landarztes, glaubt aus eigener Erfahrung nicht an die Wirkung von Vernunftappellen. Wenn aber die Außenwelt ein „intensives Glücksgefühl“ vermitteln könne, brauche niemand den Trostspender Alkohol. Das ist neu aus dem Munde eines Mediziners. Grotjahn geht es um den gesellschaftlichen Auslöser für Krankheiten, er will der Sozialen Hygiene, die zwischen Medizin, Statistik und Soziologie liegt, zum Durchbruch verhelfen, um die Lebenssituation der Menschen und die staatliche Lenkung zu verbessern. Der medizinische Mainstream hält Soziale Hygiene für eine Modeerscheinung. Medizinern wird beigebracht, dass Krankheiten im Körper entstehen und auch dort behandelt werden müssen. Der soziale Hintergrund des Menschen spielt nur bei der Bezahlung eine Rolle. Grotjahn hätte lieber Nationalökonomie studiert, muss aber Geld verdienen, deshalb Medizin. Er verbindet sie mit der Politik, ist Mitglied eines sozialistischen Studentenbundes und später der SPD. Ihr wird er auch die Verstaatlichung des Gesundheitswesens ins Parteiprogramm diktieren. Grotjahn betreibt ab 1896 in Kreuzberg eine Arztpraxis. 1912, gerade als Erster im Fachbereich Soziale Hygiene habilitiert, stellt er fest: „Die sozialen Verhältnisse begünstigen die Krankheitsanlage“, sie „vermitteln die Krankheitserregung“ und „beeinflussen den Krankheitsverlauf“. Der Staat soll die Probleme angehen. Doch der befindet sich auf dem Weg in einen Krieg und will die Bevölkerung klassenübergreifend im Militarismus einen. Grotjahn findet das befremdlich, bezeichnet den Krieg mit Waffen als „absurd“. Dahinter steht aber nicht nur Pazifismus: Er sieht im „Bevölkerungsauftrieb des Slawentums“ die größte Gefahr. Einzig der „Krieg der Geburtenzahlen“ sei sinnvoll. Als Leiter des städtischen Medizinalamtes baut er seine eugenischen Ideen weiter aus. Das „minderwertige Drittel“ in der Gesellschaft gelte es durch Zwangssterilisation von der Fortpflanzung abzuhalten. Ziel ist die soziale „Vervollkommnung“. Das bringt Grotjahn zwar ein breites bürgerliches Publikum und Anerkennung in der Politik ein, setzt ihn aber zwischen alle Stühle. Seine sozialen Ideen prägen sowohl jene Ärzte, die kurz nach seinem Tod in die USA und nach Israel emigrieren müssen, als auch jene, die wichtige Posten im Nationalsozialismus übernehmen. Das ist über 60 Jahre her, aber wie die Diskussion um das Sarrazin-Buch zeigt, scheinen Grotjahns eugenische Ideen noch nicht vergessen zu sein.

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