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Gesundheit: Migräne: Die Hölle aus dem Hirn

"Migräne sind Kopfschmerzen, auch wenn man gar keine hat." Der KinderbuchAutor Erich Kästner hat damit gesagt, was viele heimlich denken: Migräne ist keine Krankheit, sondern eine Ausrede.

"Migräne sind Kopfschmerzen, auch wenn man gar keine hat." Der KinderbuchAutor Erich Kästner hat damit gesagt, was viele heimlich denken: Migräne ist keine Krankheit, sondern eine Ausrede. Für Frauen etwa, die sich vor ihren Ehepflichten drücken wollen. Für arbeitsunwillige Simulanten und Hypochonder.

Sogar Ärzte hegen Skepsis: "Wenn Sie vor zehn Jahren einen Arzt gefragt hätten, ob Migräne eine echte Krankheit sei - etwa 70 Prozent hätten mit Nein geantwortet", sagt Michel Ferrari, Neurologe am Medizinischen Zentrum der niederländischen Universität Leiden. "Heute glauben das vielleicht noch 40 Prozent."

Die Fraktion der Skeptiker und Spotter verliert immer mehr an Rückendeckung. Ferrari selbst hat dazu auch ein Scherflein beigetragen. Zusammen mit dem Genetiker Rune Frants entdeckte er ein Gen, das bei einer seltenen Form der Migräne eine entscheidende Rolle spielt. Das Gen auf Chromosom 19 enthält die Blaupause für Kalziumkanäle bestimmter Hirnzellen. Bei dieser Migräneform, die mit halbseitigen Körperlähmungen einhergeht, ist das Gen mutiert. Damit rückt die Migräne vom Hirngespinst zu einer messbaren Hirnabweichung.

Migräne stammt von "hemicrania" - die "Halbschädlige". Der Name bezeichnet einen Krankheitsaspekt, der bei der Migräne buchstäblich hervorsticht: den pulsierenden, pochenden Schmerz in einer Kopfhälfte. Oft geht ein Anfall mit Übelkeit und Erbrechen einher. Bei etwa 15 Prozent der Patienten kündigt sich die Migräne durch eine Aura an, meist in Form von Lichtblitzen oder Zickzacklinien. Migräniker haben das Gefühl, Messer würden ihre Augen durchbohren und im Schädel rumstochern. Licht wird zur Last, Lärm zur Qual, die Leidenden flüchten in ein dunkles Schlafzimmer und suchen nichts als ihre Ruhe.

Zwölf bis 14 Prozent der Frauen sind betroffen. Männer weniger: etwa sechs bis acht Prozent. Das ergibt allein in Deutschland Millionen von Migräne-Patienten. Die genaue Zahl kennt keiner, nicht zuletzt weil viele falsch oder erst gar nicht diagnostiziert werden.

Was ist es, das diesen Patienten quält? "Migräniker leben mit einem Porsche im Kopf, geben immer Vollgas. Doch von Zeit zu Zeit benötigt das Hirn einen Boxenstopp", sagt Wolf-Dieter Gerber, Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie der Universität Kiel. "Migräne ist eine Störung der Reizverarbeitung. Migräniker werden von Reizen gleichsam überschwemmt, sie können sich nicht abschotten." Gerber ist selbst Migräniker, seine Tochter ebenso. In der schmerzfreien Zeit, sagt er, sind Migräniker geradezu hyperaktiv, "und in vielen Bereichen sogar schneller als Gesunde".

Andere Forscher versuchen, den Ursprung des Leidens zu lokalisieren. Hans Diener, Neurologe von der Universität Essen, hat Migränepatienten unter einen Hirnscanner gelegt, und zwar vor, während und nach einer Attacke. Es zeigte sich, dass ihr Hirnstamm dauerhaft hyperaktiv ist. Der Hirnstamm liegt tief im Innern des Kopfes, dort, wo das Hirn ins Rückenmark übergeht. Die Forscher sprechen bereits vom Hirnstamm als "Migränegenerator".

"Die herkömmliche Vorstellung, eine Gefäßverengung verursache die Aura und eine Gefäßerweiterung den Kopfschmerz, ist zu einfach", sagt Michel Ferrari. Inzwischen glaubt man vielmehr, dass eine Aura durch eine Aktivitätswelle entsteht, die mit einer Geschwindigkeit von zwei bis drei Millimetern pro Minute über die Hirnrinde hinwegschleicht.

Die Welle beginnt hinten im Hirn, wo visuelle Areale aktiviert werden, was die Lichtblitze hervorruft. Dann wandert sie nach vorne, zur Stirn. Bezeichnenderweise folgt eine Migräne-Aura, die von den Lichtblitzen über Berührungswahrnehmungen bis hin zu Sprachstörungen führen kann, der funktionellen Karte des Gehirns.

Die Aktivitätswelle zieht eine Deaktivierungswelle nach sich, die sich wie ein Schatten übers Hirn legt. Das hyperaktive Hirn der Migräniker kommt endlich zur Ruhe. "Es klingt absurd, aber Migräne-Kranke sind nur während der Leidensphase gesund", sagt Gerber.

Wie die Hirnaktivität mit dem Schmerz im Zusammenhang steht, ist nicht ganz klar. Sicher ist: Der Schmerz wird nicht durch das Hirn direkt verursacht. Das Hirn nämlich registriert nur den Schmerz anderer Körperteile, ist aber selbst schmerzunempfindlich.

Während der Migräne-Attacke wird - womöglich vom hyperaktiven Hirnstamm - der Trigeminus erregt, ein schmerzempfindlicher Nerv im Kopf. Einige Nervenfasern des Trigeminus enden an den großen Blutgefäßen des Hirns und den Hirnhautgefäßen. Eine Erregung dieser Nervenfasern führt zur Ausschüttung von Neuropeptiden, die die Blutgefäße erweitern und eine Entzündung an den Endigungen der Trigeminusnerven hervorrufen. Für die jetzt blank liegenden Nervenendigungen wird sogar das normale, sanfte Pulsieren der Adern zu einem schmerzhaften Pochen.

Vieles über den genauen Vorgang, der zum Schmerz führt, bleibt im Dunkeln. Und auch, wie man den Schmerz bekämpfen kann, bereitet den Medizinern nach wie vor Kopfzerbrechen. "Triptane" sind derzeit die Medikamente, die am meisten versprechen. Sie hemmen die Ausschüttung der Entzündungssubstanzen und verengen die Blutgefäße. Damit lindern sie zwar den Schmerz, packen das Übel aber nicht an der Wurzel an.

Neurologen wie Gerber wollen deshalb versuchen, auch auf dieser ursächlichen Ebene einzugreifen. Die Patienten sollen etwa ein "Reiztagebuch" führen, das ihnen bewusst machen soll, wie welche Reize auf sie wirken - um so besonders intensive und also gefährliche Reize zu identifizieren und zu lernen, damit umzugehen. Außerdem gibt es ein Medikament, das den Porsche im Kopf prophylaktisch runterfährt. Die Substanz Cyclandela etwa senkt das Erregungsniveau im Hirn.

Es gibt kein Medikament, das Migräne-Attacken verhindern kann. Aber die Erforschung der Mechanismen der Migräne, meint Ferrari, wird vielleicht nicht nur zu einem solchen Medikament führen. Die Krankheit wird mehr und mehr ihr Stigma verlieren, eine Fiktion wehleidiger Hypochonder zu sein.

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