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Gesundheit: Mittendrin in der Mitte des Lebens

Auch jüngere Menschen können pflegebedürftig werden. Sie haben aber andere Bedürfnisse als ältere. Für Pflegeheime ist das eine Herausforderung. Zu Besuch in einem Sanatorium, das sich spezialisiert hat.

Gerade war Sylvia Steckbauers Mutter da, sie hat eine Plastiktüte voll mit persönlichen Dingen ihrer Tochter mitgenommen: Teddys, kleine Souvenirs, Fotos. Denn Sylvia Steckbauer, 49, zieht bald aus dem Pflegeheim aus. Nach einem Schlaganfall vor zweieinhalb Jahren hat sie sich so weit erholt, dass sie in einer betreuten Wohngemeinschaft leben kann. „Ich freue mich auf die spannende Umgebung“, sagt sie. Ihr bisheriges Zimmer im Sanatorium West der Familie Franke Seniorenresidenzen in Lankwitz ist schon für die nächste Hausbewohnerin reserviert – eine Multiple-Sklerose-Patientin Anfang 40.

Das Haus hat 14 Plätze für junge Pflegebedürftige. Die Bewohner sind zwischen 20 und 60 Jahre alt, der zur Zeit jüngste ist 29. Unfälle oder Erkrankungen wie Schlaganfall, Hirnhautentzündungen oder Chorea Huntington haben sie pflegebedürftig werden lassen. „Ihr Schicksal: Sie finden sich meist in der Altenpflege wieder“, erzählt Hausleiterin Carola Focke. Doch dort bleibt dem Personal neben pflegerischer Arbeit in der Regel keine Zeit, die Patienten in den Alltag zurückzuführen.

Mit der Lebenserwartung von Pflegebedürftigen steigt auch die Anzahl junger Pflegefälle – und damit der Bedarf an entsprechenden Angeboten, wie es sie auch im Kreuzberger „House of Life“ und im diakonischen St. Elisabeth-Stift in Prenzlauer Berg gibt. Im Sanatorium West ist für sie ein eigener Wohnbereich mit mehr Personal als in der Altenpflege vorgesehen. So können sich die Mitarbeiter darauf konzentrieren, Alltagsverrichtungen zu üben: alleine essen, waschen, anziehen – damit die Bewohner das nach und nach wieder selbst erledigen können. Dafür brauche man Fantasie, Geduld und vor allem Zeit, sagt Wohnbereichsleiterin Cornelia Trantow. Im besten Fall werden die Bewohner schließlich aus der Pflege entlassen, wie Sylvia Steckbauer. Trantow sagt: „Bei einem 80-Jährigen hängt die Lebensqualität nicht davon ab, ob er sich jeden Tag selbst wäscht.“ Ein junger Patient hingegen möchte nicht Jahrzehnte seines Lebens im Pflegeheim verbringen. „Wir achten hier sehr darauf: Was kann ein Bewohner noch selbst?“, sagt Trantow. „Und was kann er noch lernen?“, ergänzt Sylvia Steckbauer. Als sie im Oktober 2011 ins Sanatorium kam, saß sie im Rollstuhl und konnte kaum sprechen. Heute klappt wieder alles, vom Laufen bis zum Anziehen – auch wenn die rechte Hand noch gelähmt ist. Schon vor ihrem Schlaganfall lebte Sylvia Steckbauer im betreuten Einzelwohnen – wegen einer Gehirnentzündung im Kindesalter, ausgelöst durch eine Impfung. Nach dem Schlaganfall war sie ein Vierteljahr auf Kur. 

Dann musste sie mit ihrer Mutter Ingrid, 79, überlegen, wie es weitergehen sollte. Zu sich nach Hause konnte Ingrid Steckbauer ihre Tochter nicht holen, denn dort gab es keine rollstuhlgerechte Umgebung. Betreutes Einzelwohnen kam nicht infrage, denn Sylvia war jetzt zusätzlich zu ihrer Behinderung auch ein Pflegefall. Ingrid Steckbauer erinnerte sich an das Sanatorium West, wo vor vielen Jahren schon ihre Mutter gewohnt hatte. Dass dort in der Zwischenzeit der Wohnbereich für junge Pflege eingerichtet worden war, war Zufall.

Cornelia Trantow sieht nach einem Bewohner, der sich mit lauten Geräuschen bemerkbar macht. Er ist 34 Jahre alt – vor wenigen Jahren noch stand er mitten im Leben, war Footballspieler, hatte ein abgeschlossenes Studium. Eine Hirnhautentzündung änderte alles, heute sitzt er im Rollstuhl, kann nicht sprechen, hat kein Kurzzeitgedächtnis. Trantow schiebt ihn auf den Flur und „knuddelt ihn erst mal eine Runde“, wie sie sagt. Junge Bewohner hätten ein ganz anderes Bedürfnis nach Nähe und Körperlichkeit. Manchmal ruft Trantow im ehemaligen Sportverein an und animiert die Mitglieder zu einem Besuch.

Eingerichtet wurde der junge Bereich 2009, weil der Bedarf immer offensichtlicher wurde. Das zusätzliche Personal wird vom Träger finanziert. Zum einen schärft dieses Angebot das Profil der Einrichtung, sagt Focke. „Zum anderen werden unsere Pflegekräfte fachlich versiert.“ Einfach war es nicht, Mitarbeiter zu finden. Die psychische Belastung sei höher, wenn Pflegekräfte plötzlich Gleichaltrige pflegen müssten. „Es ist etwas anderes, wenn man einen Menschen pflegt, von dem man sagen kann: Der hat sein Leben gelebt“, so Focke. Auch für die Angehörigen ist es eine ganz andere Art von Belastung. Für sie ist das Personal ebenfalls da.

Im Aufenthaltsraum sitzen einige ältere Hausbewohner. Sie haben gerade eine Musiktherapie gemacht – mit Volksliedern. Einem jungen Menschen geht da nicht gerade das Herz auf. Auch gemeinschaftliches Filmegucken ist für ihn nicht unbedingt erfüllend, wenn Filme mit Heinz Rühmann laufen. Die Bedürfnisse sind andere. So geht der monatliche Ausflug auch nicht zum gemeinsamen Kaffeetrinken, sondern zur Currywurstbude, wenn die Bewohner das wünschen.

Sylvia Steckbauer blickt mit großer Vorfreude auf ihren bevorstehenden Umzug in die Wohngemeinschaft. Ihre Lebensfreude hat sie sich in den vergangenen zweieinhalb Jahren nach dem Schlaganfall bewahrt. Ingrid Steckbauer erzählt, ihre Tochter habe ihr schon signalisiert, dass sie sie dann nicht mehr jeden Tag besuchen müsse. Sylvia ist jetzt wieder bereit dazu, ihr Leben so selbstständig wie nur möglich zu führen.

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