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Gesundheit: Morgenland

Von Christoph Markschies, Präsident der Humboldt-Universität

Ob es sich beim Morgenland um eine Wertsache handelt, ist gegenwärtig für viele Menschen eher unklar. Sie denken beim Orient an tief verschleierte Frauen, den lauten Ruf eines Muezzins vom Minarett und wahrscheinlich auch an den Terror bestimmter fundamentalistischer Gruppen. Lange wurde der Begriff Morgenland vor allem mit drei Weisen assoziiert, die von da gekommen sein und dem Heiland der Welt edle Geschenke mitgebracht haben sollen. Liebhaber der Literatur dachten je nach Geschmack an Verse des Olympiers aus Weimar („Schöne Zähne sind überall, besonders auch im Morgenland, als eine Gabe Gottes hoch angenehm“) oder an das Büchlein eines Jugendschwarms aus Calw (der „während gewisser Etappen unsrer Morgenlandfahrt … wirklich ins Heroische und Magische durchgestoßen“ sein will).

Meine erste Begegnung mit dem Morgenlande war eine andere: Meine Großmutter verbrachte ihre letzten Jahre im Feierabendheim der morgenländischen Frauenmission. Dort umsorgten sie Schwestern in einer schwarzen Tracht, einige davon trugen die großen Namen des preußischen Adels und lächelten die Großmutter streng und ihren Enkel gütig an. Es brauchte eine Weile, bevor ich ahnte, dass diese ebenso strengen wie gütigen evangelischen Schwestern eher nicht das Morgenland ausmachten – erstmals wurde mir das deutlich, als ich nicht nur die Führungsblätter aus dem Berliner Museum für islamische Kunst zu sammeln begann, sondern die darin beschriebenen Kunstwerke auch gründlicher anschaute.

Es brauchte noch einmal etliche Jahre, bevor auch dieses, von Museen und Büchern geprägte Bild des Orients zerbröselte. Ich lebte zu Beginn der achtziger Jahre für eine längere Zeit in Jerusalem, also mitten im Orient auf der Grenze zwischen dem israelischen und arabischen Teil der Stadt, und begriff, dass es in dieser Stadt neben Synagogen und Moscheen auch Häuser mit ebenso strengen wie gütigen deutschen Schwestern gab. Auch in Kairo bildet das kleine Gärtchen einer solchen Einrichtung eine regelrechte Oase im Trubel einer hektischen Stadt. Merke: Das Morgenland ist ganz anders, auch anders als man nach der Lektüre zahlloser Bücher, dem Besuch diverser Museen und mancherlei Tassen arabischen Kaffees auf lärmigen Straßen und Märkten des Orients denkt. Bunter, reicher als alle Klischees und Vorurteile. Man muss es nur entdecken. Dann findet man dort nicht nur fundamentalistischen Terror, sondern auch Lessings weisen Saladin, selbst die ebenso gütigen wie strengen Schwestern der Kindheit. Das Feierabendheim der morgenländischen Frauenmission in Berlin-Lichterfelde gibt es übrigens schon längst nicht mehr.

Der Autor ist Kirchenhistoriker und schreibt jeden zweiten Montag über Werte, Wörter und was uns wichtig sein sollte.

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