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Gesundheit: Müssen wir das schlucken?

Schlecht getestet: Sogar Medikamente, die auf ihre Wirksamkeit geprüft wurden, sind öfters nutzlos

In Deutschland gehen 80 Prozent der Patienten mit einem Rezept in der Hand aus der Arztpraxis. In Frankreich sind es nur 20, in Spanien 15 Prozent. Viele Ärzte glauben, die Patienten wollten immer ein Arzneimittel. Dass dies nicht stimmt, wurde schon vor Jahren durch Befragungen ermittelt. Gewünscht wird vor allem ärztlicher Rat nach einem ausführlichen Gespräch.

Arzt und Patient sollten gemeinsam zu einer Therapie-Entscheidung finden, sagte Wilhelm Niebling, Professor für Allgemeinmedizin in Freiburg, bei einer Veranstaltung der Ärztekammer Berlin über Trugschlüsse bei der Beurteilung von Therapien. Ist ein Medikament notwendig, gibt es andere Behandlungsformen, oder dürfte die Störung von selbst verschwinden? Ist die Wirksamkeit des vorgesehenen Arzneimittels nachgewiesen? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es diesem Patienten nützt und nicht etwa schadet?

Den meisten Patienten ist nicht bewusst, dass Ärzte sie nicht etwa nur vor Operationen, sondern vor jeder Behandlung aufklären müssen. Zum Beispiel über die Risiken einer Injektion. Viele glauben, dass Spritzen besser oder doch wesentlich schneller gegen Schmerzen wirken als Tabletten – ein Irrtum. „Ich kämpfe seit vielen Jahren gegen überflüssige Injektionen von Schmerz- und Rheumamitteln wie Diclofenac in den Muskel“, sagte Niebling.

Er hatte Erfolg; inzwischen wissen die meisten Ärzte, dass die Patienten durch die Injektion des Schmerzmittels keinen größeren Nutzen, aber ein hundertfach erhöhtes Schock-Risiko haben, wie sich auch im „Arzneimittelkursbuch“ lesen lässt. Als weiteres Beispiel nannte Niebling die Unverträglichkeits-Reaktionen bei Vitamin-B-„Aufbau“-Spritzen: „Es gibt dabei fünf bis acht Todesfälle pro Jahr!“

Nutzen und Risiken eines Mittels oder einer Methode möglichst objektiv festzustellen, ist Zweck klinischer Studien, das heißt: Studien an Patienten. Wie trügerisch aber deren Ergebnisse oft sind, erläuterte Karl Wegscheider, Statistik-Professor in Hamburg: Dass eine Behandlung des Bluthochdrucks rasch bei den meisten Patienten einer Studie wirkt, heißt noch gar nichts, schon, weil der Blutdruck sehr schwanken kann.

„In der Praxis passiert so etwas ständig“, sagte Wegscheider: „Der Blutdruck, vielleicht auch ein Laborwert, ist etwas auffällig. Der Arzt sagt: Da müssen wir etwas tun! Und verordnet ein niedrig dosiertes Mittel. Dann kommt der Patient wieder zum Arzt, und beide stellen erfreut fest: Es hat geholfen.“ Dabei lag gar keine Störung vor – oder der Organismus wurde von selbst damit fertig.

Deshalb braucht man für Therapiestudien in der Regel eine Kontrollgruppe. Vergleichbare Patienten bekommen nach dem Zufallsprinzip („randomisiert“) entweder das zu prüfende Mittel oder ein bereits bewährtes; manchmal auch ein wirkstoffloses Placebo. Wer zu welcher Gruppe gehört, soll weder der Proband noch der behandelnde Arzt wissen – beide sind „blind“. Solche „randomisierten kontrollierten Doppelbindversuche“ gelten als Goldstandard klinischer Forschung.

Trotzdem werden jede Menge falsche Schlüsse daraus abgeleitet. Wegscheider brachte ein verblüffendes Beispiel dafür: „Wer nach einem Herzinfarkt weiter raucht, lebt länger als jemand, der schon vorher aufgehört hat zu rauchen.“ Absurd? In der Tat.

Aber das ergaben scheinbar die Zahlen einer Studie, die zwei Mittel zur Auflösung gefährlicher Blutgerinnsel (Thrombolytika) verglichen: An einem zweiten Infarkt binnen 180 Tagen nach dem ersten starben 4,7 Prozent der Raucher, jedoch 6,7 Prozent der Nichtraucher (die mindestens drei Jahre vor dem ersten Infarkt aufgehört hatten).

Wie das? Die Zufallszuteilung berücksichtigte nur die beiden Medikamente. Die Ex-Raucher jedoch waren viel älter als die Raucher, die ja ihren Herzinfarkt schon in jüngeren Jahren bekommen. Und Alter ist nun einmal der bedeutendste Risikofaktor fürs Sterben – noch gewichtiger als selbst das Rauchen.

Wie fehlerträchtig sogar die „Goldstandard-Studien“ sind, zeigten auch zwei Wissenschaftler aus dem Institut für Allgemeinmedizin der Universität Kiel, Hanna Kaduszkiewicz und Thomas Zimmermann, am Beispiel der Antidementiva, der Mittel gegen Hirnleistungsstörungen.

Die Forscher untersuchten nur die besten Studien über jene Substanzen, die noch am ehesten eine – wenn auch sehr schwache – Wirksamkeit bei leichter Alzheimer-Demenz haben sollen: drei so genannte Cholinesterasehemmer (Donepezil, Rivastigmin und Galantamin).

Sie fanden zahlreiche Verfahrensfehler, außerdem Trugschlüsse bei der Deutung der Resultate. Wenn etwa auf einer Skala von 0 bis 70 zur Einschätzung der geistigen Leistungsfähigkeit die behandelten Probanden 3,1 Punkte mehr erreichten, bedeutet das nicht viel. Solche Tests sind unzuverlässig, und die Unterschiede waren in allen Studien minimal, stellten die beiden Kieler Forscher fest.

In einer dieser beiden Therapiestudien wurden die Testergebnisse der vorzeitig ausgeschiedenen Patienten einfach bis zum Ende fortgeschrieben. Da aber die Altersdemenz fortschreitet, bedeutet dies: Je mehr Patienten ausscheiden, desto besser fällt das Ergebnis für das geprüfte Mittel aus.

Unter den vielen anderen methodischen Mängeln der Demenzmittelprüfungen, die die Kieler Forscher gemeinsam mit ihrem ärztlichen Publikum analysierten, fällt noch einer auf: Bei einer Doppelblindstudie ist die „Verblindung“ nicht gewährleistet, wenn die Prüfsubstanz (Beispiel: Rivastigmin verglichen mit Placebo) leicht an ihren unerwünschten Wirkungen zu erkennen ist. Mit Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Schlaflosigkeit oder Herzrhythmusstörungen ist bei diesen Antidementiva offenbar eher zu rechnen als mit der erhofften Methode.

So lautete das ernüchternde Fazit der beiden Prüfer dieser klinischen Prüfungen: „Es lässt sich nicht sagen, ob die Cholinesterasehemmer nützen, schaden oder sich neutral verhalten.“

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