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Gesundheit: Mysteriöse Schriften: Ein rundes Rätsel

"Schon wieder ein Diplom-Ingenieur", schimpft Veit Stürmer und wedelt mit einem dicken Stoß Papier. "Ich habe schon einen Riesenstapel mit angeblichen Entschlüsselungen von Diplom-Ingenieuren bekommen.

"Schon wieder ein Diplom-Ingenieur", schimpft Veit Stürmer und wedelt mit einem dicken Stoß Papier. "Ich habe schon einen Riesenstapel mit angeblichen Entschlüsselungen von Diplom-Ingenieuren bekommen." Der Archäologe an der Humboldt-Universität in Berlin ist gerade von Ausgrabungen in Kreta zurückgekehrt. "Ein Geisteswissenschaftler weiß, dass es Dinge gibt, die er nicht klären kann", meint Stürmer. "Aber diese Techniker bilden sich ein, jedes Problem sei lösbar."

Vor beinahe 100 Jahren legten Archäologen auf Kreta den Palast von Phaistos frei und fanden dabei eine Tonscheibe von etwa 30 Zentimetern Durchmesser, die auf beiden Seiten mit mysteriösen Zeichen bedeckt ist. Sie ahnten nicht, welchen Fluch sie damit über die Archäologie brachten. Denn der Diskos hat zwar unzählige Forscher in seinen Bann geschlagen. Bei der Enträtselung der Schrift ist man jedoch nicht klüger als zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Die einzig sicheren Fakten waren schon damals bekannt: Der Fund stammt aus der Zeit zwischen 1700 und 1600 Jahren vor Christus. Auf den spiralförmigen Schriftzügen des so genannten Diskos von Phaistos sind 45 verschiedene Stempelabdrücke zu einem insgesamt 241 Zeichen langen Text aneinandergereiht. "Mit einer Materialprobe könnten wir durch chemische Analyse mehr über die Herkunft des Diskos erfahren", ist Stürmer überzeugt. Doch das lehnen die Kreter ab. Die Scheibe im Museum von Heraklion wird als unantastbares Nationalheiligtum betrachtet. Da die Wissenschaft seit 1908 nicht weiter gekommen ist und die Entschlüsselung von namhaften Forschern mittlerweile ausgeschlossen wird, ist die Deutung der geheimnisvollen Hieroglyphen weltweit zum Hobby von Freizeitarchäologen geworden.

Das Internet ist zum beliebten Tummelplatz für die wildesten Spekulationen über den Diskos geworden. Der Informatiker Bernd Schomburg hat einige der verrücktesten Deutungen in seiner Homepage http://home.t-online.de/home/Bernd.Schomburg/sm01.htm aufgelistet. Seiner eigenen Version zufolge hat der Diskos den "Jahrtausendkalender der Minoer" darstellt. Für den Mediävisten Dirk Ohlenrot enthält der Diskos ein "Beschwichtigungsgebet" mit den Worten: "Im Kreis um den Opferrauch schlag ein auf die Erde, und wiehere jählings wie ein Pferde-Paar: Aaio ae! hyauax!" Der Skandinavier Kjell Aartun sieht in dem kryptischen Text erotische Lyrik: "Sei tief hineindringend, Lüsterner! Bewege dich tief hinein, Fisch in deinem Mund!" Unter den Adressen http://www.casema.net/Äcold/phaistos.htm und http://users.otenet.gr./Äsvoronan/phaistos.htm finden sich ganze Linklisten mit Übersetzungsversuchen.

Der Franzose Jean François Champollion entzifferte zu Beginn des 19. Jahrhunderts die ägyptischen Hieroplyphen, als die Fachwelt die längst aufgegeben hatte. Der Deutsche Georg Friedrich Grotefend entschlüsselte anhand von Grabinschriften die altpersische Keilschrift. Erst in den 50er Jahren knackten die Briten Michael Ventris und John Chadwick die Schrift der mykenischen Kultur, der Homer in seinen Epen ein Denkmal setzte. Warum sollte dies mit den kretischen Zeichen auf dem Diskos nicht auch möglich sein?

"Champollion hatte den Stein von Rosette, auf dem ein Hieroglyphentext mit griechischer Übersetzung stand", erklärt Stürmer. "Chadwick und Ventris standen Tausende von Tontäfelchen mit mykenischen Inschriften zur Verfügung." Doch in Phaistos weisen neben dem Diskos nur ein Dutzend Metallplomben jeweils zwei der rätselhaften Zeichen auf. Dies reicht nicht aus, um mehr als Spekulationen über die Bedeutung des Textes zu machen. "Selbst wenn jemand unwahrscheinlicherweise die richtige Übersetzung in der Hand hielte - er würde es nicht merken", meint der Archäologe.

Wenn es nach Veit Stürmer ginge, würde die Wissenschaft die Beschäftigung mit dem Diskos aufgeben und sich mit wichtigeren Dingen befassen. "Nur wenn wir Inschriften mit mindestens 5000 statt 241 Zeichen hätten, könnte man an eine Entschlüsselung denken", ist Veit Stürmer überzeugt. Ist es denkbar, dass im schon so viel beackerten Boden Kretas zufällig Material gefunden wird, das zwanzig Mal so viele Stempelabdrücke wie der Diskos enthält? "Wunder geschehen in der Archäologie immer wieder", räumt der Forscher ein.

Leif Allendorf

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