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Andreas Michalsen bei der Arbeit.

© Georg Moritz

Naturheilkunde und der Placebo-Effekt: Therapie für die Seele

Im Wald spazierengehen, Akupunktur, Blutegel auflegen – kann das wirklich gegen Krankheiten helfen? Die Naturheilkunde sagt: Ja. Weil Placebo-Effekte die Selbstheilungskräfte aktivieren. Ein Besuch.

Der Weg, nicht mal einen Meter breit, geht leicht bergab zum Ufer des Kleinen Wannsees. In der Gegenrichtung geht es einen sanften Hügel hinauf. Zwölf breite Steinstufen führen zu einem imposanten Gebäude mit Flügeltüren aus Glas. Das Gebäude gehört zum Immanuel-Krankenhaus, Andreas Michalsens Arbeitsplatz. Der 52-Jährige macht einen Spaziergang im Garten des Krankenhauses, gemächlich, die Körperhaltung entspannt. Wenn er auf den Boden blickt, sieht er grobkörnigen Asphalt. Blickt er nach vorne, sieht er Heilmittel. Knorrige Bäume, den Rasen im verblichenen Grün, die sanften Wellen des Sees, Vögel auf den Ästen.

Sicher, es ist bloß Natur. Einerseits. Andererseits sind die Vögel, die Wellen, die knorrigen Bäume auch Therapie für die Seele. Sie stehen für Entschleunigung, für Ruhe und Entspannung. Ein entspannter Spaziergang in der Natur ist wahrscheinlich die einfachste Form, Selbstheilungkräfte des Körpers zu stimulieren.

Für Michalsen ist diese körpereigene Schutzfunktion ein Kernthema. Muss ja so sein, er ist Chefarzt der Abteilung Naturheilkunde am Immanuel-Krankenhaus und Professor für Naturheilkunde an der Charité. Der Internist hat promoviert im Bereich Kardiologie. Von der klassischen Medizin ist er nicht abgenabelt, er geht nur anders an bestimmte Krankheiten heran als viele Kollegen. Und er setzt auf ein Hilfsmittel, das bei vielen Beobachtern Stirnrunzeln erzeugt: den Placeboeffekt. Michalsen benützt das Wort allerdings nur, weil die breite Masse damit etwas anfangen kann. Als Placebo bezeichnen Mediziner ein Scheinmedikament, das keine pharmakologisch wirksamen Bestandteile enthält. Unter „Placebo-Effekt“ fassen Ärzte Wirkungen zusammen, die allein durch die Verabreichung einer Arznei und den Glauben daran, sie würde helfen, entstehen. Michalsen mag das Wort nicht, Placeboeffekt. „Es kommt aus der Pharmaforschung“, sagt er, wieder in seinem Büro, hinter sich ein Bild in ruhigen, hellen Farben, die Hände um ein Glas Mineralwasser gelegt. Lieber redet er von „unspezifischen Effekten“. Von Wirkungen, die sich keiner so genau erklären kann.

Hilft es, ist das Ziel erreicht. Warum es wirkt? Das muss man nicht wissen.

In der Naturheilkunde werden solche Effekte nicht bloß beiläufig und leicht argwöhnisch zur Kenntnis genommen. Sie haben ganz im Gegenteil eine zentrale Rolle. Dazu muss man allerdings so pragmatisch denken wie Michalsen: Wenn sie einem Patienten helfen, diese unspezifischen Effekte, ist das Ziel erreicht. Muss er auch noch wissen, warum sie wirken und wie? Muss er nicht.

Akupunktur ist eine Art Blaupause für die Wirkung unspezifischer Effekte. Die Nadelstiche sind viel mehr als eine Pikserei. Für Patienten können sie als Symbol für Lebensenergie stehen. Das Zauberwort dabei heißt Ritual. Je mehr Brimborium gemacht wird – im erträglichen Maß natürlich –, umso bedeutsamer kann der Effekt sein. „Akupunktur hat einen großen Ritualfaktor“, sagt Michalsen. Die Nadeln, die demonstrativ sorgsame Suche nach den richtigen Punkten auf der Haut, die beruhigenden Worte des Arztes: ein rituelles Gesamtkunstwerk. Der Patient hat schon das Gefühl von symbolhafter Aktion, bevor überhaupt rein medizinisch die erste Reaktion aufgetreten ist. „Er sieht, da passiert etwas, das ist Theorie dahinter. Lebensenergie fließt. Das Ritual hat Heileffekte.“

Auch die Blutegel haben einen realen Effekt. Es ist ja nicht alles Einbildung.

Andreas Michalsen bei der Arbeit.
Andreas Michalsen bei der Arbeit.

© Georg Moritz

Aber geheilt wird man nicht bloß durch mimische Glanzleistungen. Selbstverständlich, sagt der Chefarzt, hat Akupunktur auch spezifische Effekte, klassisch medizinische. „Die Akupunktur unterbricht die Schmerzleitungen zum Gehirn. Der Schmerzreiz hat Signalfunktion auf die Schmerzbahnen und kann damit andere Schmerzen ausblenden beziehungsweise überdecken.“

Ein anderes Ritual: das Schröpfen, die Arbeit mit Blutegeln. Ausgerechnet Blutegel? Der Anblick dieser zuckenden Kriechtiere? Eigentlich doch eher ein Killer von Selbstheilungskräften. „Nein“, sagt Michalsen, „wir hatten noch nie Patienten, die sich angewidert weggedreht haben.“ Im Gegenteil, „Blutegel haben einen ganz hohen unspezifischen Effekt.“ Ja? „Na klar. Da saugt so ein Tier böse Säfte aus meinem Körper, das sind die Bilder, die viele mit den Egeln verbinden.“ Dann wird ja auch noch die Haut aufgeritzt, noch so ein ritueller Auftritt. „Wenn es blutet, denken viele, dass jetzt der Schmerz aus dem Körper gelenkt wird.“

Aber auch die Blutegel haben einen sehr realen, sehr erklärbaren Effekt, es ist ja nicht alles Einbildung. Sonst könnte man auch einen Regenmacher in den Klinikgarten setzen, der Pulver in die Luft wirft und nicht bloß Wasserfluten, sondern auch Blitzheilungen verspricht. Es ist immer eine Mischung aus spezifischen, erklärbaren und unspezifischen Effekten. Welchen Anteil welcher Part hat, ist Ärzten wie Michalsen am Ende aber recht egal. Es gibt ja auch keine Norm, bei jeder Krankheit liegt das Verhältnis anders.

Weit weg vom Mysterium, aber auch Teil der Sparte „unspezifische Faktoren“ ist das ausführliche Gespräch mit dem Patienten. „Ist jemand ängstlich und trifft dann auf einen Arzt, der wenig Zeit hat und ihn etwas hektisch ins Krankenhaus überweist“, sagt Michalsen, „fühlt er sich danach nicht besser.“ Also bietet das Immanuel-Krankenhaus ein Kontrastprogramm. „Wir nehmen uns viel Zeit“, sagt Michalsen, „bei uns dauert ein Aufnahmegespräch eine Stunde.“ In 60 Minuten kann der Arzt über Stress, Ernährung, Schlaf, berufliche, private Probleme reden, die ganze Palette, die die Gesundheit beeinflussen. „Man entwickelt Vertrauen“, sagt Michalsen. „Das kann einen therapeutischen Effekt auslösen, in dem Moment laufen schon Selbstheilungsprozesse. Naturheilkunde ist ja nichts anderes als die gute alte Medizin.“ Aber die gute alte Medizin in dieser Form greift nicht bei Patienten, bei denen – Michalsen sagt es drastisch, aber treffend – „die Gesundheit im Eimer ist“. Da hilft nur eine komplette Lebensstilveränderung oder der klassische Einsatz der Schulmedizin.

Doch für viele ist schon genügend Bewegung ein enormer Fortschritt. Sport oder der Spaziergang in der Natur können manchmal mehr bewirken als Tabletten. So gesehen macht die junge Frau, die Michalsen auf dem Asphaltweg am Wannsee entgegenkommt, erst mal alles richtig. Sie ist in der freien Natur, sie kommt vorwärts. Ziemlich schnell sogar, bemerkenswert schnell. Ihre Selbstheilungskräfte stimuliert sie damit freilich nur bedingt. Die Frau steht fröhlich lachend auf einem Roller mit Kleinmotor.

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